· 

Die Deutsche Frage gibt es!

 

Auszug aus meinen Aufzeichnungen „Mein erstes Jahr in der Politik“

 

 

 

Montag, 27. November 1989                    
Für diesen Abend nahm ich mir die Anrede der Teilnehmer als Bewohner ihrer (noch nicht bestehenden) Länder als Anrede vor. Der Beifall für meine diesbezüglichen Eingangsworte war enorm.

Den Gedanken an die ehemals bestehenden Länder trug ich bereits geraume Zeit mit mir herum. Erstmalig äußerte ich entsprechende Vorstellungen öffentlich in einem Leserbrief Mitte Oktober '89 an die "Mitteldeutschen Neuesten Nachrichten" (veröffentlicht auszugsweise erst Mitte November nachdem dieser Gedanke erst durch die Blockflöten in der kommunistischen Volkskammer aufgenommen war!). Die Wiedereinrichtung der ehemaligen Länder sah ich als einen möglichen Einstieg in eine Wiedervereinigungsdiskussion an. Von deutscher Einheit zu reden, mußte im Oktober 1989 noch als politisch sehr unvorsichtig eingeschätzt werden. Die Gefahr, SED und Stasi "wie schla­fende Hunde" zu wecken, war zu groß. Geboten schien mir im Oktober ein unauffälliges Annähern an die deutsche Frage zu sein, bei­spielsweise durch die Länderbildungsdiskussion angeregt. Länder gab es ja schließlich auch schon einmal unter den Kommunisten bis 1952...!

Die Situation hinsichtlich der deutschen Frage änderte sich er­wartungsgemäß rasend schnell von Woche zu Woche. So das ich am 27. November die deutsche Frage bewußt und für eine Partei in jener Zeit als erster überhaupt öffentlich ansprechen konnte (die Ostberliner Sozis hingen hier immer noch hinterher, obgleich es nach heutigen Zeitmaßstäben dann auch dort schnell genauso kam).

 

Die SDP vollzog an diesem Abend einen gewaltigen Sprung nach vorn in der Gunst der Leipziger Demonstranten. Ein Vorsprung, der erst mit Lafontaines Ellenbogenstrategie gegen den auf ihn zumarschierenden Osten und der „Gründung der Allianz für Deutschland“ wie Schnee in der Sonne des Augustusplatzes zu schmelzen begann. Ab Mitte Februar 1990 fühlte ich mich dann auf dem Balkon der Oper „eher allein zu Haus“. Als ostdeutscher Sozi den Leuten klar zu machen, dass die Einheit auch von der West-SPD gewollt war, das war halt sehr schwierig. Montags abends ich da oben zu den Leuten und von Dienstag bis Sonntag der Irrläufer aus Saarbrücken auf allen Kanälen - da war für mich wenig zu reparieren. Schade. Die SPD-Ost wurde am 18. März 1990 für die SPD-West vom Wahlvolk verdroschen. So wie die CDU-Ost für die CDU-West vom Wahlvolk gestützt, den politischen Himmel küssen durfte.

 


Die Tagesschau berichtete an diesem Abend in ihrer Spätausgabe wie inzwischen üblich über die vorangegangene Leipziger Montagsdemonstration und holte sich dazu Stimmen von Haltungskünstlern, die an der gleichzeitig laufenden Leipziger Dokfilmwoche beteiligt waren,  der damaligen Art ein. Tenor:  Ausgerechnet ein Sozialdemokrat stritt heute auf dem Karl-Marx-Platz in Leipzig die Existenz eines Volkes der DDR ab! Ausgerechnet ein Sozialdemokrat, was soll das noch werden?
 

 

2013:
Eine letze Anmerkung zum 150. Jubiläum des ADAV am 23.05. 2013 in Leipzig. Ich war 1989/90 überzeugt und bin es noch heute, die Hunderttausende, die mir am 27. November 1989 bei der Nennung von Lassalles‘ Forderungen zujubelten, die standen dem Reformer Lassalle wesentlich näher als den Radikalinskis aus Eisenach 1867.

 

Der Schrägheit dieses Vergleiches bin ich mir wohl bewußt. Und dennoch bleibt zu konstatieren. Die ersten Erfolgsjahrzehnte der Leipziger SDP/SPD wurden hauptsächlich durch den inneren Reformflügel und weniger durch die Jünger der sozialistischen Glaubensrichtung in der SPD getragen.

 




Rede vom den 27. November 1989:         
                                                      (Augustusplatz)
Guten Abend, Bürgerinnen und Bürger von Leipzig, werte Demonstranten aus Sachsen, Sachsen-Anhalt
(weiter kam ich nicht, donnernder Applaus setzte ein), Thüringen, Brandenburg und Mecklenburg. Ich begrüße Sie als Mitglied des Kreisverban­des Leipzig der Sozialdemokratischen Partei auf dem Karl-Marx-Platz, dem früheren Augustus­platz (Applaus). Mein Name ist Gunter Weißgerber. (Applaus)

Sehe ich mit heute alle Transparente oder höre ich mir Ihr Rufen an, so erkenne ich zwei Hauptfragen:

1. Freie Wahlen
(Applaus),

2. Die deutsche Frage
(großer Applaus).
Zu diesen Problemen, welche heute offenbar einen Großteil der in der DDR lebenden Deutschen bewegt, möchte ich meinen Standpunkt abgeben:

1. Freie Wahlen
(Applaus)
Am 1. März 1863 (!) verfaßte Ferdinand Lassalle
(Applaus) ein offenes Antwortschreiben an die Leipziger Arbeiter. Darin formulierte er unter anderem:
1. Das allgemeine, gleiche und direkte Wahlrecht,
2. Die Bildung von Produktivgenossenschaften mit Staatshilfe
(Applaus).
Man möchte glauben die Zeit sei zwischen Elbe und Oder stehengeblieben. Und das seit 126 Jahren!
(Jubel)
Merken Sie etwas? Wenn heute LDPD, NDPD, DBD, CDU und allen voran die SED freie Wahlen und Förderung des Handwerks versprechen, dann haben die doch nichts anderes getan, als die 126 Jahre alte Forderungen der Sozialdemokratie zu ihren eigenen zu machen! Das ist mit geistigem Diebstahl vergleichbar! Und dies ausgerechnet durch Leute, welche bisher genau das Gegenteil getan und verkündet haben. Gerade die SED, die Newcomer im Vergleich zu uns, welche die Tradition der von ihr einverleibten Sozialdemokratie jahrzehntelang als "Sozialdemokratismus" geächtet und unterdrückt hat, wagt es heute, so zu tun, als ob alles vergeben und vergessen sei und jetzt "in Sozialdemokratie gemacht" wird. Ich denke, daß die Bürgerinnen und Bürger für diese unglaubliche Kehrtwendung ganz einfach zu feinfühlig sind, um der alten SED ihre neue Maske abzukaufen!

2. Zur deutschen Frage
(donnernder Applaus)
Jawohl, die gibt es! Ein Scharlatan, der sie verleugnet!
(Jubel) Man braucht nur in Millionen deutsche Familien hineinzuschauen, und da sieht man sofort die Probleme der Trennung. Und wo Probleme bestehen, da sind naturgemäß auch Fragen! Deshalb zeugt es von sagenhafter Ignoranz der bis dato sich selbst zur Regierung emporgehobenen SED-Führung, zu sagen, daß es keine deutsche Frage gibt. Als ob es die Zerrissenheit Millionen deutscher Familien nicht gibt...! (der Platz tanzt schier vor Wonne)
Übrigens gibt es für mich auch kein Volk der DDR!
(Jubel) So wie es vielen Menschen hier immer ein Lächeln abrang, wenn offiziell von einer sozialistischen Nation die Rede war!
Es gibt ein deutsches Volk und das lebt in zwei deutschen Staaten. Das ist die Realität. Davon muß man ausgehen!
(Applaus)

Weiterhin sind die europäischen Realitäten zu beachten. Dies alles im Blick, kann man nur von einer Lösung der deutschen Frage im europäischen Rahmen sprechen. Diese Lösung ist natürlich nur innerhalb der Grenzen von 1945
(gemeint war/ist die Grenzziehung nach der Kapitulation) möglich! Sorgen wir mit für ein waffenloses und friedliches Europa - und die Selbstbestimmung der Nation ist möglich. Wir brauchen das Vertrauen der Nachbarvölker. Und dieses müssen wir uns durch Friedenspolitik erwerben! (Applaus)

Im Rahmen der Aufarbeitung des "realexistierenden Sozialismus" als Verbrämung des Stalinismus (Kommunismus) fordern wir die umfassende Rehabilitierung aller durch NKWD, KGB, Stasi, KPD und SED unschuldig verfolgten Demokraten seit Kriegsende!
Noch ein paar Worte zu unserer Programmforderung nach einer sozialen Marktwirtschaft. Wir wollen einen funktionierenden Markt, in dem der Einzelne sich tatsächlich bei viel Leistung auch viel leisten kann! Dabei ist darauf zu achten, daß durch die Besteuerung des Marktes optimale soziale Bedingungen geschaffen werden! Beide Begriffe - "sozial" und "Marktwirtschaft" - haben gleichrangige Bedeutung.

Noch zu den aktuellen Ereignissen in der CSSR. Neben anderen Rednern habe auch ich am 18. November auf dem Platz vor dem Reichsgericht die Invasion der sich sozialistisch nennenden Länder von 1968 verurteilt. Meine Forderung nach Einladung Alexander Dubceks nach Leipzig, um ihm die Ehrenbürgerwürde zu überreichen, wurde nach meinem Kenntnisstand noch nicht in Erwägung gezogen. Gerade die DDR hat die Pflicht, sich bei Alexander Dubcek und damit bei den Völkern der CSSR zu entschuldigen! Holt ihn lieber jetzt noch her, ehe Ihr ihn möglicherweise als Staatspräsidenten des Nachbarlandes sowieso an Eurer Seite dulden müßt!

Herr Krenz! Warum distanzieren Sie sich nicht von Ihrer Lobhudelei des chinesischen Massakers auf dem Platz des "Himmlischen Friedens"? Warum distanzieren Sie sich nicht von dem faschi­stoiden System in Rumänien mit dessen Conducator - auf gut deutsch: Führer - an der Spitze? Anläßlich der Ordensverleihung an diesen sozialistischen Monarchen waren Sie und das Politbüro auch nicht sprachlos!
(Applaus)

Zum Schluß noch ein Hinweis. Die SDP trifft sich immer montags um 17.00 Uhr am Bachdenkmal in der Innenstadt.