· 

18. November 1989: „Nichts ist gesichert! Der Artikel 1 besteht weiter.“

 


Auszug aus meinen Aufzeichnungen „Mein erstes Jahr in der Politik“

 


XI Reden für die Freiheit in der der Deutschen Einheit und in der Sicherheit in der NATO


Zwischen dem 18. November 1989 und dem 18. März 1990 sprach ich für die SDP/SPD in Leipzig auf insgesamt 13 großen Demonstrationen. Es war eine intensive und stürmische Zeit. Belohnt wurde das alles für mich mit dem persönlichen Kennenlernen Willy Brandts, Helmut Schmidts, Annemarie Rengers, Hans Büchlers, Klaus von Dohnanyis und vielen anderen großen Sozialdemokraten.
Willy Brandt haben die Deutschen sehr viel zu danken. Der späte Willy Brandt lief dabei ab 1989 noch einmal zur Form seines Lebens auf. „Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört“ – ein Jahrhundertsatz eines großen deutschen und europäischen Sozialdemokraten.
Die persönliche Krönung für mich dabei war der schier unglaubliche Umstand, dass ich den Mann, den schon mein Vater so sehr bewunderte, als ostdeutscher Sozialdemokrat persönlich kennen lernen durfte. Nein! Ich stand mit ihm sogar gemeinsam auf einer Wahlkampftribüne, in Görlitz am 24. November 1990, an meinem 35. Geburtstag. Christian Müller, MdB a.D., Willy Brandt und ich sprachen zu den Menschen. An so etwas war noch kurz vorher niemals im Leben zu denken gewesen.
Willy Brandt fiel es in der Bundestagsfraktion nach dem 2.Dezember 1990 sichtlich schwer, mit dem Versagen Lafontaines nicht noch deutlicher abzurechnen. Mir gegenüber, auch vielen anderen gegenüber, machte er jedenfalls keinen Hehl aus seiner großen Enttäuschung. Die Generation Brandt, Schmidt, Renger war 1989/90 auf dem Damm und auf Augenhöhe mit den Ereignissen. Die führenden Enkel verharrten im Sandkasten der parlamentarischen "Du-bist-doof"-Spiele.
Sämtliche Reden sind verschiedentlich dokumentiert, nachfolgend gehe ich deshalb nur auszugsweise darauf ein.

18. November 1989: „Nichts ist gesichert! Der Artikel 1 besteht weiter.“
 An diesem Tag 1989 konnte ich mir endlich meinen lang gehegten Wunsch erfüllen und als Redner der ältesten demokratischen Partei Deutschlands das Gewicht dieser Partei in die Waagschale geben. Es war ein phantastisches Gefühl!

Aber auch hier gab es leider wieder Verdruss. Die Sozis wurden als Konkurrenz aufgefasst. Anfänglich unter den ersten 15 Rednern, wurde ich immer weiter nach hinten geschoben. Es muss mit der Sendezeit der ARD zusammengehangen haben. Dort kam jedenfalls die SDP in der Direktübertragung nicht mehr vor. Selbst in der LVZ-Berichterstattung am Montag wurde nur der Leipziger SDP-Vorsitzende Karl-August Kamilli erwähnt, der jedoch nur wenige Sätze zur Begrüßung zu den Anwesenden sagte. Sein Auftritt war mir zudem vorher nicht bekannt gewesen. War ich doch wenige Tage vorher bei ihm in seinem Büro in der Geophysik Leipzig, um ihm meine Redevorstellungen zur Kenntnis zu geben. In dem Gespräch kündigte er seinen eigenen Auftritt nicht an. Im Gegenteil, er beließ mich im Glauben, allein an diesem Tag für die SDP zu reden. Mit meinem Manuskript war er einverstanden, machte sogar Änderungswünsche deutlich, die ich selbstverständlich übernahm. Er war schließlich der frisch gewählte Vorsitzende der SDP in Leipzig. Ich hätte sogar akzeptiert, wenn er mir gesagt hätte, ich solle nicht reden, weil er es als Vorsitzender tun wolle und musste. Er war der Ältere. Auch das war für mich ein Grund, ihn zu akzeptieren.

 

Seine Änderungswünsche bezogen sich auf meine Passagen zu den SED-Mitgliedern, denen ich für die SDP keine Persilscheine ausstellen wollte. Dies sah er anders. Ich sollte die SED-Mitglieder um Verständnis und Vertrauen bitten, dass für den Moment eine Aufnahme nicht möglich sei. Dies deckte sich ein Stück mit meinen Vorstellungen, wonach es aktuell unmöglich war und auch ich nicht wusste, wie es später einmal aussehen würde. Vorerst waren Kamillis Worte nicht als Einladung zu verstehen. Das war okay.

 

Wirklich wichtig waren für mich an diesem Tag ohnehin drei andere Punkte. Die Sozialdemokraten sollten endlich vernehmlich in das Geschehen eingreifen und dies vor allem politisch sehr deutlich und kompromisslos tun. Zum anderen wollte ich unbedingt ein großes Zeichen von Leipzig nach Prag senden. Der Oberbürgermeister von Leipzig sollte als deutliches Zeichen der Entschuldigung bei unseren Nachbarn für den Einmarsch der Warschauer Pakt-Truppen 1968 in die CSSR Alexander Dubcek zu einem Leipziger Montag einladen. Der SED-Oberbürgermeister sollte gezwungen werden, die Schuld der SED an der Niederschlagung des Prager Frühlings durch ebendiese Einladung einzugestehen. Wir hatten uns doch nicht bei den Tschechen und Slowaken zu entschuldigen. Das war doch Aufgabe der deutschen Kommunisten! So sah ich das jedenfalls und wollte es um jeden Preis in die Welt rufen. Wichtig war mir diese Forderung auch vor dem Hintergrund der noch andauernden brutalen Ereignisse in Prag. Die Menschen dort erlebten an diesem Samstag noch den staatlichen Terror, der in Leipzig am 7. Oktober das letzte Mal gewalttätige Urstände abfeierte. Meine Forderung sollte das Zeichen unserer Solidarität mit den Tschechen und Slowaken und unseres Bangens für deren friedliche (in die Geschichtsbücher als „Samtene Revolution“ eingegangen) Umwälzung sein.

Der dritte wichtige Punkt war das Fortbestehen des Artikels 1 in der DDR-Verfassung, der die SED-Herrschaft festschrieb. Bei aller Freude über das bis dato Erreichte dufte niemand vergessen, dass die DDR faktisch nur wankte, der SED/MfS-Gewaltapparat aber noch völlig intakt war. Ein Wink aus Moskau und der Terror wäre über uns gekommen wie 1953 in der DDR, 1956 in Ungarn und Polen, 1968 in der CSSR und 1981 wieder in Polen.

Rede vom 18. November 1989:                                                                       (Reichsgericht)
Mein Name ist Gunter Weißgerber. Ich bin Mitglied der Sozialdemokratischen Partei in der DDR, Kreisverband Leipzig. Somit spreche als Sozialdemokrat zu Ihnen!

Und als Sozialdemokrat nutze ich gleich die Möglichkeit und fordere die SED auf, ihren Geburts­fehler - nämlich die Zwangsvereinigung von 1946 - wahrheitsgemäß aufzuarbeiten.

Schließlich wurde damals der "sozialdemokratische Elefant" in die Zwangsjacke der "stalinistischen KPD - Mücke" gepreßt! Leider vergaß Professor Arndt in seinem Artikel vom 16. November 1989 in der LVZ
[1] bezüglich der Zwangsvereinigung den Umstand zu erwähnen, daß noch im November 1945 Otto Grotewohl gegen die Einheitspartei war und ihn erst ein dreimona­tiger Aufenthalt in Moskau bei Stalin's NKWD von der Notwendigkeit einer Einheitspartei über­zeugte...

Übrigens sind meiner Meinung nach die Eigentumsverhältnisse hinsichtlich des der Sozialdemo­kratie durch die KPD abgenommenen Vermögens an Gebäuden noch lange nicht juristisch geklärt!

Ich spreche hier an dieser Stelle an:

- die alten Sozialdemokraten - kommt zu uns! Ihr seid unsere moralische Substanz!

- den sozialdemokratisch gesinnten Teil der Bevölkerung. Helft mit, die Sozialdemokratie, also die Volksbewegung mit den größten Traditionen im deutschen Volke, auch in diesem Teil Europas wieder zum Leben zu erwecken! Einheitsfronten müssen nicht geschmiedet werden. Sie können auf Grund von Wahlmehrheiten in Koalitionen bestenfalls zustande kommen.

- die SED - Mitglieder, welche Lust verspüren, sich uns anzuschließen. Sie sind uns prinzipiell will­kommmen, doch verstehen Sie uns bitte auch, wenn Ihnen Mißtrauen begegnet! Es ist ein Denk­prozeß für alle, den wir jetzt durchmachen! (Wunscht Kamilli)

1968 war für Europa ein sehr tragisches Jahr! In diesem Jahr marschierte wieder einmal eine deutsche Armee in verbrecherischer Absicht in ein friedliches Nachbarland ein. Ich fordere die derzeit Regierenden der DDR auf, sich bei den Völkern der CSSR zu entschuldigen! In diesem Sinne schlage ich dem Rat der Stadt Leipzig vor, Alexander Dubcek anläßlich einer Montagsde­monstration zu uns einzuladen! Weiter bitte ich den kommissarischen Bürgermeister dieser tapferen Stadt, dem ebenso tapferen Slowaken die Ehrenbürgerwürde anzutragen. Dies wäre Teil einer unabdingba­ren Schuldabtragung unsererseits, zumal die DDR in Person Honeckers die Invasion angeregt hatte.

Noch etwas zum Thema Streik: In der jetzigen Situation würden wir uns selbst mit diesem Mittel in den Abgrund stürzen! Streiks sind jetzt überhaupt nicht angebracht bzw. notwendig. Dieses Mittel heben wir uns für den Fall auf, daß es zu einer Militärdiktatur kommen sollte!

Unsere Haltung zur Montagsdemos: Unseren Dank den Leipzigern! Ihnen ist es zu danken, daß sich ein sozialdemokratischer Ortsverein bilden konnte. Unsere Meinung ist: Montagsdemonstrationen haben sehr viel erreicht:
- Wir haben viel Offenheit im Land
- Wir können frei reisen
- Es ist ein gewaltiger Druck von uns gewichen!

Aber nichts ist gesichert! Der Weg zum Rechtsstaat ist noch weit. Die strukturelle Absicherung des Artikel 1 besteht weiter. Solange dieser nicht beseitigt ist, müssen wir weiterdemonstrieren!

Noch einmal zum Artikel des Professor Arndt: Sein Artikel widerspiegelt doch nur die Angst der SED, durch die Existenz der SDP für die Bevölkerung ganz offensichtlich zu dem zu werden, was sie schon immer ist - nämlich die politische Vertretung einer Minderheit!



[1]Artikel "Traditionen der SPD in der SED?" siehe Seite 77. Plötzlich erfuhr der DDR-Leser, daß die demokratische Elemente der frühen SED-Diktion auf den sozialdemokratischen Bestandteil der Partei zurückzuführen waren, nicht auf den kommunistischen. Für sich betrachtet, kann der Artikel dem Versuch der SED den Gang der Ereignisse wieder zu bestimmen, zugeordnet werden. Nach der Devise: Ihr wollt Freiheit und Demokratie? Dann bleibt bei der SED, denn jene vertritt diese Ziele schon immer. Ihr wußtet es bloß noch nicht... .