· 

Leipzig wurde 1945 nicht von pazifistischen Briefeschreibern befreit

                                 Zeichnung: Dr. Günther Deilmann übergibt Merkers i. d. Rhön kampflos an die US Army


Klare Worte von Bürgermeister Ulrich Hörning (SPD) am 24. Februar auf der Demonstration in Leipzig ! Danke dafür.

Auch Bürgermeister Ulrich Hörning, Leiter des Ukraine-Koordinierungsstabs der Stadt Leipzig, fand deutliche Worte:

„Leipzig wurde 1945 nicht von pazifistischen Briefeschreibern befreit, sondern von US-Soldaten auf deutschem Boden. Es fällt schwer, aber es ist nötig.“

Auch Leipzig sei lange zu unkritisch gegenüber Russland gewesen, zu sehr verwoben mit wirtschaftlichen Interessen – von der Messe bis zu Verbundnetz Gas.

„Wir erwarten eine selbstkritische Haltung auch von den anderen politischen Vertretern des Freistaats Sachsen. Wir in Leipzig bekennen uns zum Erbe der Friedlichen Revolution.“


Die komplette Rede:

 

Links steht eine Gruppe Menschen vor einem großen alten Gebäude. Vor ihnen hält rechts im Bild ein Mann eine Rede. Hinter ihm sind einige Flaggen gehisst.
© Stadt Leipzig/sf

Rede von Ulrich Hörning, Bürgermeister für Allgemeine Verwaltung und Leiter Koordinierungsstab Ukraine

- Es gilt das gesprochene Wort. -

Liebe Leipzigerinnen und Leipziger, liebe Mitglieder der Leipziger ukrainischen Gemeinschaft, sehr geehrte Stadträtinnen und Stadträte, liebe Frau Lohachova, liebe Frau Kinebas, liebe Kolleginnen und Kollegen aus der Stadtverwaltung Leipzig, sehr geehrte Damen und Herren,

Herzlich willkommen hier am Neuen Rathaus, auf dessen Vorplatz der Name der Stadt Kyiv eingelassen ist. Leipzigs älteste Partnerstadt, 61 Jahre Freundschaft und Verbindung, vier Staaten, zwei Städte, 61 Jahre. Das ist Europa.

Ich grüße Sie an diesem Tag sehr herzlich von unserem Oberbürgermeister, Burkhard Jung, der gerne heute bei Ihnen gewesen wäre. Er ist in Berlin, beim Bundespräsidenten und vertritt unsere Stadt beim Gedenkakt unserer Staatsspitze zum Kriegsbeginn.

Ich grüße Sie auch vom Oberbürgermeister der Stadt Kyiv, Vitali Klitschko, und überbringe Ihnen einen Gruß des Danks und der Solidarität für die Leipzigerinnen und Leipziger. Ich hatte gerade vor einer Woche am Rande der Sicherheitskonferenz in München die Gelegenheit, mit Herrn Klitschko zu sprechen. Seine Grußbotschaft nach Deutschland finden Sie auch im Internet der Stadt Leipzig.

Wir gedenken. Wir gedenken heute an ein Jahr offenen Krieg in Europa, 9 Jahre Krieg Russlands gegen die Ukraine. Wir erinnern an ein Jahr furchtbare Nachrichten und furchtbares Erleben aus einem Krieg gegen jede Menschlichkeit, gegen die friedliche Ordnung in Europa und ganz konkret gegen die Menschen in der Ukraine, von denen niemals eine Aggression gegen ein Nachbarvolk ausging. Und ja, wir erinnern uns gerade heute auch in kritischer Sicht auf das eigene deutsche Wegsehen und Ignorieren des Krieges, der schon seit 2014 von Russland begonnen wurde und den wir zu lange in unserer Bequemlichkeit von Exportwirtschaft und preiswert warmen Wohnungen ignoriert haben. Und wir wissen es, aber fühlen es nur ungenau hier in Deutschland: Das ist nicht der nächste Nachrichten-Feed auf dem Handy oder der nächste Netflix-Kriegsfilm auf dem Tablet, es sind Schicksale, Leid und Sterben in einem europäischen Land. Unsere Angst und unsere Sorgen hier in Deutschland mögen uns bewegen, aber sie sind nur ein Abklatsch von dem, was die Ukrainerinnen und Ukrainer erleiden.

Wir erinnern uns. Wir erinnern uns auch an das Gefühl von Sprachlosigkeit und Hilflosigkeit aus den ersten Tagen des Krieges vor einem Jahr; aber auch an die klare Haltung der Fraktionen des Leipziger Stadtrats und des Jugendparlaments. Dabei hat der Stadtrat nicht nur „deklaratorisch“ Haltung gezeigt, sondern mit einem für deutsche Städte beispiellosen Hilfspaket in Millionenhöhe auch notwendige Mittel für die Hilfe hier in Leipzig und in der Ukraine ermöglicht.

Wir sind dankbar. Wir sind dankbar für das enorme Engagement der Leipzigerinnen und Leipziger. Als Freiwillige am Hauptbahnhof, als Unterkunftgeber „auf der Couch“, als Helferin im Kohlrabizirkus, als Gründer von neuen Vereinen. Als Begleiterinnen „ihrer Ukrainer“ bei Behördengängen, Weiterreise, Wohnungssuche, Ausstattung, Ankommen. Wir haben es ihnen, liebe Leipziger Helfer, als Verwaltung dabei nicht immer einfach gemacht, ich hoffe, Sie sehen uns das nach. Diese ihre Mitmenschlichkeit erwuchs aus ganz vielen privaten 3 Haltungen, christlich, humanistisch, internationalistisch, landsmannschaftlich oder biografisch mit Bezug zu eigener Erfahrung im Austausch aus Zeiten der Sowjetunion und der DDR. Egal. Die Hilfe war da. Sie kam in vielen Fällen auch von Russland-stämmigen Leipzigern, auch daran sei erinnert. Ohne Sie alle, liebe Bürgerinnen und Bürger, ohne ihre konkrete Solidarität hätten wir in Leipzig nicht dieses Wunder des Ankommens gemeinsam schaffen können. Und sie sind auch weiter da, wenn es um die Aufnahme von weiteren Geflüchteten in Leipzig geht, wenn es jetzt um die Organisation von Hilfe aus der syrischen Gemeinschaft für die Opfer des Erdbebens in der Grenzregion zur Türkei geht, wenn es darum geht, die weltoffene Stadt Leipzig zu beleben. Danke, Danke, Danke.

Wir weinen und trauern. Wir weinen und trauern aber auch an diesem Tag um die Toten dieses Krieges, um die an Körper und Seele geschändeten und verletzten Menschen. Uns erfüllt dabei eine Sprachlosigkeit und Traurigkeit, die keine Worte finden kann, die aber in der Stille, Gegenwart und Anteilnahme sagen kann: Ich sehe dein Leid, ich trauere mit Dir.

Wir umarmen und halten. Wir umarmen und halten die, die jetzt um ihre Lieben bangen, mögen Sie noch als Verwandte und Freunde in der Heimat sein, oder als Kämpferinnen und Kämpfer in den Streitkräften, ungewiss, mit Angst und Mut im Angesicht eines bitteren Feindes.

Wir sind demütig und ehrfürchtig. Wir sehen demütig und ehrfürchtig auf das, was „normale Leute“ in der Ukraine für Heldentaten leisten. Als Soldatinnen und Soldaten im Kampf gegen die Besatzer, als zivile Helfer, Freiwillige, Eisenbahnerinnen, bei der Dokumentation von Menschenrechtsverletzungen, als Aufbauhelfer in den befreiten Gebieten. „Normale Leute“, die uns in Deutschland schmerzhaft vor Augen führen, wo wirklicher Einsatz beginnt, und die uns fragend und schaudernd zurücklassen, wie wir als deutsche Gesellschaft wohl mit einem solchen Angriff umgingen, wenn schon die Absenkung der Heiztemperatur in Gebäuden als Ende der mitteleuropäischen Sozialordnungen hysterisiert wird.

Wir sind zuversichtlich. Wir sind zuversichtlich, dass jeder kleine Akt der Menschlichkeit von Leipzigern für Ihre Gäste, jedes gelernte deutsche Wort der ukrainischen Mutter, jede neue Freundschaft des ukrainischen Jungen auf dem Leipziger Schulhof, jeder Beginn einer Beschäftigung im deutschen Arbeitsmarkt, jede Sichtbarkeit der ukrainischen Kultur als Teil Europas hier in Leipzig … all das sind kleine Heldentaten der Menschlichkeit und des Siegs über die Barbarei. Diese Heldentaten vollbringen Sie liebe ukrainische Gemeinschaft und wir hier gemeinsam, jeden Tag. Auch das ist Teil unseres Kampfes gegen Unmenschlichkeit und Barbarei, gegen das Russland was der ukrainischen Kultur und Ihnen als Menschen die Existenz verneinen will und was über seine Agenten unsere Gesellschaft zu spalten versucht. Ich bin stolz und dankbar.

Ich bin stolz und dankbar als Verantwortlicher für die 9.000 Beschäftigten der Stadtverwaltung Leipzig, von denen viele in der Zeit nach dem 24. Februar großes geleistet haben. Unterkünfte, Aufbau unseres Ankommenszentrums, Betrieb unseres Engagementzentrums, Organisation von Hilfstransporten, Beschaffung von ganz neuen Gütern. Und Danke auch an die Kolleginnen und Kollegen, die an ihren Arbeitsplätzen vertreten haben, Mehrarbeit in ihren originären Aufgaben geleistet haben, dass nichts zu lange liegenblieb. Danke an Sie alle liebe Kolleginnen und Kollegen, an Sie als „normale Leute“ die mit diesen kleinen Heldentaten über ihre normalen Aufgaben hinaus dem freundlichen Gesicht der Stadt Leipzig einen Ausdruck geben.

Ich sagte Ihnen, dass Oberbürgermeister Jung heute beim Bundespräsidenten in Schloss Bellevue eingeladen ist. Herr Jung hat es gestern bei der Eröffnung der Ausstellung zu ukrainischer Fotografie im Zeitgeschichtlichen Forum verdeutlicht: Auch wir bei der Stadt Leipzig waren zu lange zu unkritisch gegenüber dem Imperialismus Russlands, zu verwoben mit anscheinenden Wirtschaftsinteressen, von der Leipziger Messe bis zur VNG. Wir erwarten eine solche selbstkritische Sicht auch von den anderen politischen Vertretern des Freistaats Sachsen.

Wir bekennen uns in Leipzig zum Erbe der Friedliche Revolution von 1989. Bürgermeister Klitschko hat das in seiner „Rede zur Demokratie“ in der Leipziger Nikolaikirche 2021 als Inspiration für die demokratische Bewegung in der Ukraine hervorgehoben. Wir leisten in Leipzig als Stadt aber auch ein klares Bekenntnis zu Antifaschismus und dem Kampf gegen die Tyrannei. Wir ehren in Straßen und öffentlichen Gebäuden Gerda Taro aus Leipzig, (gestorben beim Bericht über den Kampf gegen die Faschisten in Spanien 1936), Raymond Bowman aus Rochester, New York (gefallen im Kampf um die Befreiung Leipzigs 1945) und Borys Romantschenko aus Charkiw (Buchenwald-Überlebender, getötet bei einem Luftangriff Russlands 2022). Aus diesem historischen Bewusstsein stärkt sich auch unsere Unterstützung für den Kampf der Ukraine.

Heute haben wir zwei Fahnen am neuen Rathaus gehisst. Die Fahne der Ukraine und die Fahne des Bündnisses der „Bürgermeister für den Frieden“ (Mayors for Peace). Damit verleihen wir Ausdruck unserer andauernden Solidarität mit der Ukraine und unserem Bekenntnis zum Sieg der Freiheit, der Demokratie und des Rechts über die Barbarei. Wir verleihen auch Ausdruck unserem Wunsch als Städte der Welt nach Frieden, einem Frieden der sich auf die internationale Ordnung der Vereinten Nationen gründet, dem Respekt zwischen den Völkern und der Wahrung der Menschenrechte, keinem naiven Frieden über den Gräbern der Geschändeten. Und für unsere Verständigung hier in Deutschland und in Leipzig wünsche ich mir, dass wir über alle politische Spaltungen hinweg im Gespräch bleiben können, dass wir weiter unterscheiden können zwischen den Menschen aus Russland, die diesen furchtbaren Krieg betreiben und befördern und den Russlandstämmigen Leipzigerinnen und Leipzigern die gemeinsam mit uns für den Frieden arbeiten. Dass wir uns gegenseitig anerkennen, dass wir alle wollen, dass das Leid und das Töten beendet wird.

Wenn wir uns fragen, was wir tun können, hier in Deutschland. Dann möchte ich gerne die Worte der Friedensnobelpreisträgerin, Oleksandra Matchviichuk, der Rechtsanwältin vom Zentrum für bürgerliche Freiheit, aufgreifen. Ich hatte die Ehre, Frau Matviichuk und ihre Mitstreiterinnen letztes Wochenende persönlich kennenzulernen. Gefragt, was wir hier in Westeuropa tun können war die Antwort ganz klar: Geben Sie als Demokratien der Welt der Ukraine die Waffen, um sich gegen den menschenverachtenden Imperialismus Russlands zu verteidigen, sprechen Sie mit ihren politischen Führern, erlauben Sie keine „Bequemlichkeit des Friedens“. Ich schließe mich diesem Aufruf der Friedensnobelpreisträgerin gerne an.

Als Vertreter der Stadt Leipzig will ich nicht länger sprechen. Wir wollen die Stimmen der Vertreterinnen der ukrainischen Gemeinschaft in Leipzig hören. Danke, daß Sie alle da sind. Danke, daß Sie als Leipzigerinnen und Leipziger solidarisch zur Ukraine stehen.

Тримаймося

Slava Ukraini!