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Wir haben nur die Strasse

 

"Wir haben nur die Straße" / Archiv Bürgerbewegung 2015



 

Bereits durch mein Elternhaus bin ich ganz stark sozialdemokratisch geprägt worden. Der Westberliner Frontstadtbürgermeister Willy Brandt und dessen  neue Ostpolitik  mitsamt des Kniefalls von Warschau und seinem Erfurter Besuch oder der KSZE-Prozess und die Doppelte Nullösung  mit Helmut Schmidt waren Meilensteine. Für mich kam sehr früh nur ein politisches Engagement in einer in der DDR zu gründenden SPD in Frage.

 

 

Ich hätte im Herbst 1989 am liebsten viel eher zu den Demonstranten geredet, weil in mir ein Druck war, was meiner Meinung nach gesagt werden sollte. Aber ich wollte als Sozialdemokrat reden. Die Sozialdemokratie musste in Leipzig aber erst noch gegründet werden. Ich musste also die Gründungszeremonie abwarten[1]. Dann war völlig klar, ich muss die Gelegenheit suchen, weil ich es für mich ganz genau wußte, was Sozialdemokratie für Ostdeutschland bedeuten würde, ich weiß es halt einfach, wo sie hin soll.

 

 

Vor dem 18. November 1989 war ja bekannt, dass das Neue Forum eine Veranstaltung am Reichsgericht machen wird und es würden alle dran teilnehmen[2] können - nicht nur das Neue Forum sondern alle neuen Gruppierungen und so auch die SDP. Da habe ich mich in der Drellindenstrasse gemeldet und das erste Mal auf einer Kundgebung gesprochen. An diesem Tag regte ich eine Einladung an Alexander Dubcek zur Wiedergutmachung für den 68er Einmarsch und als solidarisches Signal an die zur selben Zeit unter schwersten  staatlichen Terrormaßnahmen in Prag demonstrierenden Tschechen und Slowaken  an.

 

 

Mit dieser Rede war ich nun bei den Organisatoren der Montagskundgebungen bekannt und die Leipziger Sozialdemokratie griff nun hörbar in das Geschehen ein.

 

 

Am 27. November habe ich dann das erste Mal auf einer Montagsdemonstration gesprochen und ganz klar Stellung zur deutschen Einheit bezogen. Das kam phantastisch an. Bis Ende Februar war ich dann jeden Montag oben dabei.

 

Nur am 4. Dezember kam es nicht mehr dazu. Ich kam zu spät auf den Balkon der Oper, weil ich einfach nicht durch die Massen gekommen bin. Die Kundgebung lief schon und Jochen Lässig signalisierte mir, dass ich heute aus Zeitgründen nicht sprechen kann. Es ging ja um die Stasibesetzung an der Runden Ecke an diesem Abend. Das war das Wichtigste. Es wusste ja keiner wie die Stasi-Offiziere reagieren. Vielleicht kam aber auch noch eine gewisses "Konkurrenzdenken" hinzu. Es gab wohl Befürchtungen, dass die SDP, die als Partei besser organisiert war und eine klare Botschaft vermittelte, bei den Wahlen am 6.Mai 1990 gewinnen würde. Was man sich zu dem Zeitpunkt noch nicht vorstellen konnte, war, dass mit der CDU ganz andere durchmarschieren würden.

 

 

Am Runden Tisch wurde vereinbart, dass nach dem Schweigemarsch am 18.12. und der Weihnachtspause keine Kundgebungen im neuen Jahr mehr stattfinden sollten. Der große Zuspruch der Menschen zur deutschen Einheit und ein angeblich aggressiver werdendes Klima waren Ursache der Fehl-Entscheidung. Auf diese Weise sollten eventuelle Eskalationen vermieden werden. Doch über den Jahreswechsel bekam die SED wieder Oberwasser. Hinzu kam, dass die Leute auf Redebeiträge gewartet haben. Im Januar 1990 gab es dann ein Gespräch mit Friedrich Magirius[3]. Dabei waren Jochen Lässig, Thomas Rudolph, Gudrun Neumann, der Leipziger Polizeipräsident und ich. Magirius wollte uns die Kundgebungen ausreden. Doch wir haben „Nein!“ gesagt und eine Presseerklärung zur Weiterführung verfasst. Ab Januar lag die Organisation der Kundgebungen dann in den Händen des Neuen Forum, der Initiative für Frieden und Menschenrechte und der SDP.

 

 

Um die an dem Tag noch gültige Vereinbarung, nicht vom Balkon der Oper zu sprechen, nicht zu verletzen, sprach ich am 15. Januar 1990 mittels eines Megaphons aus einem „Barkas“[4] heraus. Ich glaube, auch andere haben auf diese Weise auf dem Augustusplatz gesprochen. Es ging um die Vorstellung der neuen Parteien. Das haben wir zu diesem Zeitpunkt noch nicht als Wahlkampf verstanden. Doch von Montag zu Montag merkten wir, dass es das ist. Wenn man so will, gab es eigentlich ab Herbst Wahlkampf. Warum wollte ich denn viel früher für die SPD reden? Es war doch klar, wer jetzt die „Pflöcke“ einschlägt, dessen Bewegung oder Partei ist  dann auch präsent, wenn es darauf ankommt.

 

 

Der Ton ist mit der Zeit schon schärfer geworden. Spätestens mit der Gründung der „Allianz für Deutschland“[5] und Rühes[6] Störfeuer, wonach die Sozialdemokraten von der SED unterwandert  und gegen die Einheit seien, ging das los. Ab diesem Zeitpunkt wurde ich immer mit Pfiffen begrüßt. Das waren dramatische Situationen. Mit den Rufen „Rote raus!“ war ich gemeint. Gerade ich als „Roter“ – das hat persönlich schon weh getan. Aber ich habe mir gesagt, es kann nicht sein, dass die älteste demokratische Partei Deutschlands klein beigibt. Da muss sie sich eben auspfeifen lassen. Ich habe durchgehalten, aber Spaß hat es ab Mitte Februar keinen mehr gemacht. Wenn Volkmar Weiß von der DSU mit oben war, habe ich mich immer neben ihn gestellt. Ich dachte mir, wenn etwas geworfen wird, dann werden die Leute ihn wohl nicht treffen wollen und ich bekomme auch nichts ab.

 

Auf der letzten Kundgebung vor den Wahlen sollten die Spitzenkandidaten der Parteien sprechen. Für uns sprach Volker Manhenke, da Karl-August Kamilli verhindert war. Er ist auch gnadenlos ausgepfiffen worden.

 

 

Allem späterem Ungemach zum Trotz, die Kundgebungen bis zur Volkskammerwahl waren der „Treibstoff“ dafür, dass die Menschen weiterhin demonstrierten - montags in Leipzig und in anderen Orten an anderen Wochentagen. Damit konnten wir den Gang der Dinge massiv beeinflussen.

Die zeitgleich stattfindenden Dialogveranstaltungen hatten dagegen nur Petitionscharakter von vormaligen Untertanen an den SED-Staat. Doch der musste ja weg.

Auf die vielen Demonstrationen musste die SED tatsächlich reagieren.

Auf das Dampfablassen in den Dialogen musste keiner wirklich reagieren. Diese Dialoge waren Teil der SED-Schleimspur, um die Leute von der Strasse zu holen. Schon deshalb ging ich nie dahin.

Mein Pulver wollte ich nicht an sinnloser Stelle verschiessen. Was sich ja auch als richtig erwiesen hatte. Ich bin glücklich, dass wir dazu beigetragen hatten, unsere 1989 gewonnene Freiheit und Demokratie durch die Deutsche Einheit 1990 und damit als Mitglieder von EU und NATO dauerhaft zu sichern.

Mein Motto war eindeutig „Freiheit und Sicherheit unter dem Dach der Deutschen und Europäischen Einheit“.

 

 

 



[1] In Leipzig wurde die SDP/SPD am 7. November 1989 in der Reformierten Kirche wiedergegründet.

[2] Am 18.11.1989 fand die erste staatlich genehmigte Demonstration des Neuen Forums in der DDR statt.

[3] Superintendent Friedrich Magirius moderierte den Runden Tisch in Leipzig.

[4] Barkas B 1000 – Kleintransporter aus DDR-Produktion

[5] Am 5.2.1990 bildete sich das Wahlbündnis „Allianz für Deutschland“

[6] Volker Rühe – Generalsekretär der West-CDU