Leipziger Volkszeitung 3. November 2009
Gunter Weißgerber MdB
Es gilt das gesprochene Wort!
Borna, 5. November 2009
Sperrfrist: 5. November 2009 19 Uhr!
20 Jahre Friedliche Revolution und Deutsche Einheit
Sehr geehrte Frau Oberbürgermeisterin Lüdtke, sehr geehrter Herr Landrat Dr. Gey, sehr geehrte freigewählte Volksvertreter aus dem Bundestag, dem Landtag und dem Stadtrat von Borna. Liebe
Mitbürgerinnen und Mitbürger!
Ich bedanke mich sehr herzlich für die Einladung! Ich empfinde es als außerordentliche Ehre, hier in Borna, in der Stadt, in der mich 1971 der Direktor der EOS „Wilhelm Pieck“ zwang, meine
amerikanischen Schlosserhosen auszuziehen und zum Friseur zu gehen, in der Stadt, in der ich 1975 Abitur machte, heute vor Ihnen in Freiheit reden zu dürfen.
Wie war die Stimmung 1989?
Margarethe von Trotta schuf in historisch anderen Zusammenhängen das Bild von der bleiernen Zeit. Ich vermag die 80er Jahre der DDR ebenfalls nur als solch eine Zeit zu beschreiben. Überall
Entwicklung, die alte Bundesrepublik ging mit Westeuropa den friedlichen Weg der Grenzenlosigkeit. Der KSZE-Prozess riss Löcher in den Eisernen Vorhang, in der CSSR machte die Charta `77 weltweit
aufmerksam. Der Papst war ab 1978 ein Pole und fokussierte in seiner Person den menschenrechtskritischen Blick auf den Ostblock. In Polen gründete sich die Gewerkschaft Solidarnost, in Ungarn
debattierte die Staatspartei öffentlich über die Konterrevolution von 1956, die von nun an richtigerweise ein Volksaufstand war. Gorbatschow setzte ab 1985 auf die Vernunft, auf Glasnost und
Perestroika. Die Supermächte beendeten ihre Konfrontation und schlossen am 8. Dezember 1987 infolge des NATO-Doppelbeschlusses in Washington mit dem INF-Vertrag den ersten atomaren
Abrüstungsvertrag in der Geschichte der Menschheit.
Die Sowjetunion war in Bewegung gekommen. Die Bestandsaufnahme war fulminant und in ihrer Wirkung alles verändernd. Die politischen Grundfesten wurden erschüttert, erstmals wurden die Millionen
Opfer seit Lenin und Stalin, auf denen das östliche Wirtschafts- und Eigentumssystem aufgebaut worden war, systemöffentlich bekannt.
Nur in der DDR sollte sich nichts ändern. Plötzlich mutierte der große sozialistische Bruder zum Querulanten und Nachbarn, dem man beim Tapezieren nicht hinterherlaufen würde. Sogar der Sputnik
wurde verboten. Die DDR, der gesamte Ostblock war reif, überreif für friedliche und demokratische Veränderungen. Diese Stimmung war überall zu greifen. Im Gegensatz zu dieser Stimmung stand die
unerbittliche Staatsmacht mit ihrem Sozialismus angeblich für die nächsten 150 Jahre. Das war bleiern!
Die Veränderungen mussten kommen und sie kamen. Seit Jahren und Jahrzehnten langsam aber stetig. Der Volksaufstand von 1953, die ständige bis 1961 millionenfache Abstimmung mit den Füßen von Ost
nach West, die mit dem Mauerbau nur eingedämmt werden konnte und auf diese Art den Druck im Kessel wiederum ansteigen ließ, das blutige Ersticken des Sozialismus mit menschlichem Antlitz in der
CSSR 1968, die Inthronisierung einer fiktiven sozialistischen Nation der DDR, die Ausbürgerungen Prominenter und die Inhaftierung sowie der Verkauf vieler Namenloser an die Bonner Ultras, das
Entstehen der Jenaer Opposition in den 70ern, das Entstehen der Oppositionszene in Ostberlin (Umweltbibliothek), die Welle der Ausreisewilligen mit den kleinen weißen Fähnchen an den Autoantennen
und hier in Leipzig der Beginn der montäglichen Friedensgebete Anfang der 80er Jahre in der Nikolaikirche – all dies und noch viel mehr führte zu einer Atmosphäre, die nach Veränderungen roch.
Die Menschen wurden mutiger, weil sie sich auf internationale Abkommen und Verständigungen stützen und sich mit Hilfe medialer Bekanntheit im Westen zusätzlich sicher fühlen
konnten. Glasnost und Perestroika in der Sowjetunion taten ein Übriges.
Es bedurfte eines Mannes wie Gorbatschow, der die Panzer nicht mehr rollen lassen wollte.
Erst jetzt waren Honecker & Co. mit ihren Armeen und Geheimdiensten hilflos allein zu Haus. Plötzlich fehlte der Mut, sich der Bevölkerung blutig entgegenzustellen.
Die Gefahr sowjetischer Invasionen schien vorläufig gebannt. Es wehte der Wind des Wechsels und der Freiheit im Ostblock.
Es geht los!
Immer mehr Menschen fanden den Weg auf die Strasse. Begonnen hatte dies anlässlich der jährlichen Luxemburg/Liebknechtgedenkrituale
bereits im Januar 1988 in Ostberlin und wurde 1989 auch in Leipzig fortgesetzt. Hunderte demonstrierten damals ohne Genehmigung für ihre Vorstellungen von Freiheit und Demokratie und beriefen
sich auf Rosa Luxemburgs Satz von der Freiheit, die immer die Freiheit der Andersdenkenden sein solle.
Anlässlich der Leipziger Frühjahrsmesse 1989 nutzten 3000 Leipziger die mediale Weltöffentlichkeit und demonstrierten gegen die politische Ordnung.
Die Bilder gingen um die Welt und nährten wiederum die Hoffnungen der Menschen im Inland.
Am 2. Mai 1989 öffnete die lustigste Baracke im Ostblock, Ungarn, ihre Grenze nach Österreich, der Eiserne Vorhang bekam ein großes Leck und die DDR schien über diesen Umweg auslaufen zu können.
Nun begannen die Botschaftsbesetzungen von Budapest, Prag und Warschau mit bis zu 20 000 Flüchtlingen im ungarisch-österreichischem Grenzgebiet.
Am 7. Mai 1989 besaßen viele Ostdeutsche den Mut, die gefälschten Kommunalwahlen in der DDR in den Wahllokalen zu kontrollieren. Ein Mut und Optimismus, der in Zusammenhang mit der ungarischen
Grenzöffnung und den daraus zu schließenden Freiheitschancen stehen mochte.
Im Sommer 1989 fanden sich neue politische Gruppierungen wie SDP und „Demokratie Jetzt“ zusammen. Im September ging das Neue Forum an die Öffentlichkeit, die Leipziger Montagsdemonstrationen
schwollen mächtig an und die friedliche Revolution nahm ihren Lauf.
Angeheizt durch die politischen Gruppenbildungen und die beständig anwachsenden Leipziger Montagsdemonstrationen, die Botschaftsbesetzungen in den Bruderländern, die provokativen
Botschaftsausreisezüge durch den Süden der DDR, entstand bis zum 9. Oktober 1989 eine Stimmung, die den Herrschenden zunehmend Angst einflößte.
Zum Kulminationspunkt wurde der 9. Oktober von Leipzig. Tage vorher drohte die SED-Führung mit dem Massaker vom „Platz des himmlischen Friedens“ in Peking als der chinesischen Lösung für Leipzig
und gab damit eine ernst gemeinte tödliche Drohung von sich. Kurz zuvor gab es bürgerkriegsähnliche Straßenschlachten in Dresden und massenhaft „Zuführungen“, auch in die Markkleeberger
Pferdeställe. Selbst Internierungslager waren schon lange geplant, die entsprechenden „Schutz“Verhaftungslisten wurden ständig aktualisiert.
Dennoch nahmen 70 000 Menschen an der inzwischen sechsten Montagsdemonstration teil. Friedlich machten die Demonstranten der Obrigkeit klar, dass sie das Volk sind und die da oben mit ihrer
ekelhaften Stasi nicht dazugehören. Der 9. Oktober 1989 gehört zu den glücklichen Tagen der an schwierigen Daten nicht armen deutschen Geschichte. Noch nie hatte sich das Volk friedlich und
dauerhaft in einer Revolution, die anfänglich eine blutige, verlorene hätte werden können, durchgesetzt. Die Helden dieser Revolution waren die jungen Leute, die sich unter dem Dach der
Nikolaikirche vor allem mit Unterstützung von Pfarrer Christoph Wonneberger über Jahre oppositionell betätigten und nach ihrem durch die Kirchenleitung erzwungenem Hinausgehen aus eben dieser
Kirche im August 1988 im Nikolaikirchhof ein eigenes, öffentlich wirksames und zunehmend weltweit beachtetes Podium schufen.
Die SED-Führung war gelähmt und suchte nach dem 9. Oktober das Heft des Handelns vergeblich wieder in die Hand zu bekommen. Es begann die Zeit der organisierten Dialoge zwischen den Bürgern und
der Staatsgewalt bei gleichzeitigem explosionsartigen Anschwellen der Montagsdemonstrationen mit bis zu 500 000 Teilnehmern am 30. Oktober 1989 in Leipzig.
Der SED schwammen die Felle davon. Honecker wurde gestürzt, die Regierung trat zurück und mit Krenz versuchten die „Tapezierer“, ihre DDR neu zu kostümieren und damit zu retten.
Stefan Heym, Christa Wolf und viele andere angesehene Persönlichkeiten kamen ihnen sogar entgegen. Ihr Aufruf „Für unser Land“ vom 26. November 1989 spielte der SED in die Hände.
Ihnen ging es um die Eigenständigkeit der DDR, dabei naiv in Kauf nehmend, dass die alte Nomenklatura weiterhin alles im Griff haben würde.
Das sah die Bevölkerung in der Provinz anders, das sahen wir in der Region Leipzig-Borna grundsätzlich anders. Die Antwort auf den Ostberliner Aufruf „Für unser Land“ kam postwendend mit dem
„Leipziger Aufruf“, der offene Gespräche zwischen beiden deutschen Staaten mit dem Ziel einer Konföderation oder der Einheit anmahnte.
Die Entwicklung verlief vom Januar 1989 bis zum 18. März 1990, den ersten freien Volkskammerwahlen, zunehmend rasanter. Baute sich bis zum 9. Oktober der Druck im Kessel und der Mut der Menschen
langsam, aber stetig auf, so wurde die Entwicklung bis zu den Volkskammerwahlen atemberaubend schnell. Der Leipziger Karl-Marx-Platz mit seinen Kundgebungen und den Woche für Woche
hunderttausenden Demonstranten wurde zum Forum im klassischen Stil, auf dem das erwachte Volk aufrecht gehen und diskutieren lernte und bestimmte, was in Ostberlin zu geschehen hatte. Ein
gleiches galt für alle anderen Plätze und Straßen in der DDR zu jener Zeit.
Veränderungen, die unter normalen Umständen Jahre brauchen, waren damals nach Tagen bereits veraltet und erforderten die nächste Änderung.
Herrschte bis zum 9. Oktober der gemeinsame Wille nach Freiheit und Demokratie vor, so artikulierten sich danach die unterschiedlichen Auffassungen über die Ziele der Emanzipationsbewegung.
Aus der emanzipatorischen Feststellung „Wir sind das Volk“ wurde die politische Forderung „Wir sind ein Volk“. Plötzlich war es möglich, den Ruf nach deutscher Einheit zu formulieren. Eine
Forderung, die kurze Zeit vorher die Staatsmacht unerbittlich und vernichtend auf den Plan gerufen hätte, deshalb auch bis dahin nicht offen gefordert wurde.
Um schnell freie Wahlen und Demokratie zu erreichen und um das bisher Erreichte zu sichern, bedurfte es jeden Montag der vielen hunderttausend Menschen auf den Strassen Leipzigs und in der
DDR.
Nur diese demonstrativ zur Schau gestellte Macht der Bevölkerungsmehrheit konnte der SED und dem MfS die löchrig gewordenen Grenzen aufzeigen.
Allerdings war klar, die vielen Menschen würden auf Dauer nur in großer Zahl kommen, wenn es auch regelmäßig zu politischen Kundgebungen kommen würde.
Dies galt besonders nach dem 9. November, dem Tag der innerdeutschen Grenzöffnung. Der mit der Grenzöffnung entwichene Druck musste über das regelmäßige Angebot an politischen Kundgebungen
sozusagen kompensiert werden.
Neben das verführerische Angebot im plötzlich offenen Westen mussten wir unser politisches Angebot auf die Rednertribünen stellen. Es durfte politisch nicht ausreichen, reisen zu können und dafür
alles beim Alten zu belassen.
Die Verhältnisse in der DDR mussten unumkehrbar verändert werden! Das ging nur über freie Wahlen und die Einheit in Freiheit.
Neu für uns: Der Wahlkampf… und wahlkämpfen…….
Im Vorfeld der ersten freien Volkskammerwahlen am 18. März 1990 wurden die Demonstrationen
politisch differenzierter, sie wurden zu Wahlkampfplattformen.
Letztlich setzten sich die Parteien am Wahlabend durch, die sich am Klarsten zur deutschen Einheit bekannten.
Ausschlaggebend für die Einzelergebnisse war das Zutrauen der Bevölkerung in die Geschwindigkeit des Einigungsprozesses, die die einzelnen Parteien versprachen.
Folgerichtig gaben sie der „Allianz für Deutschland“ (CDU, DSU, DA) in großer Mehrheit ihre Stimme und damit den Auftrag, die Deutsche Einheit zügig anzugehen.
Kurzum, die friedliche Revolution in der DDR brach der Freiheit und der Demokratie Bahn, stürzte vor allem von Leipzig aus die Berliner Mauer ein, setzte die Deutsche Frage auf die politische
Tagesordnung und beantwortete diese ohne Zögern. Das Volk wollte nicht nur die Freiheit, es wollte genauso die Sicherheit vor Rückabwicklung dieser Freiheit.
Wir hatten keine Zeit. Ein möglicher Putsch in der damaligen Sowjetunion hätte mit Sicherheit die russischen Panzer, wie 1953 geschehen, wieder auf die Strassen gebracht und all das von der
Bevölkerung im Herbst 1989 Erreichte zerschlagen. Diesbezügliche Gerüchte kursierten bereits um den Jahreswechsel 1989/90.
Ohne sicher viele Todesopfer wäre das angesichts der bekannten kommunistischen Geschichte niemals abgegangen. Dieser Gefahr mussten wir zuvorkommen.
Als dann im August 1991 in Moskau erfolglos geputscht wurde, waren wir bereits 9 Monate in der Sicherheit des westlichen Bündnisses.
Jede Bundesregierung, selbst eine von Lafontaine geführte, hätte sich dem Einheitsdrang der Deutschen positiv stellen müssen.
Es war aber Helmut Kohl und die von ihm geführte Bundesregierung, die zu dieser Zeit die Geschicke der alten Bundesrepublik leitete und die Einheitssehnsucht der Deutschen in beiden Teilstaaten
erfasste und ausdrücklich bejahte.
Deshalb ist es auch Helmut Kohls Verdienst, den deutschen Einigungsprozeß gemeinsam mit der demokratischen DDR- Regierung unter de Maiziere und Meckel vorangetrieben zu haben.
Die Fehler, die danach gemacht wurden, ändern an dieser grundlegenden Aussage nichts.
Fehler, Missverständnisse und Aufarbeitung
Fehler wurden tatsächlich jede Menge gemacht.
In der Eigentumsfrage dem Grundsatz der Rückübertragung vor der Entschädigung den Vorrang zu geben gehört hier genauso dazu wie die Fehlentscheidung, in der Treuhandanstalt die ostdeutschen
Firmen vorrangig verschleudern zu lassen, statt die erhaltungswürdigen vor dem Verkauf zu sanieren.
Ein Missverständnis der besonderen Art ist das von der Hexenjagd auf ehemalige Stasileute in Ost und West.
Es grassiert die Mär, dass die Stasiunterlagenbehörde eine westdeutsche Kolonisierungstruppe und dass die Stasiunterlagenaufarbeitung angeblich die organisierte Hexenjagd auf unbescholtene
Mitbürger ist.
Beides ist grober Unfug. Es waren die Ostdeutschen, die zu Hunderttausenden Akteneinsicht verlangten und dies durch ihre Abgeordneten im gesamtdeutschen Parlament gegen erhebliche rechtsstaatlich
folklorierte Widerstände ihrer Westkollegen durchsetzten.
Was das MfS bis 1989 betrieb, dies war eine kontinuierliche Jagd auf die eigene Bevölkerung!
Das Thema Aufarbeitung wird uns noch lange bewegen. Weil wir aus den Fehlern der Aufarbeitung der NS-Diktatur gelernt haben. Sowenig uns ein ehemaliger Marinerichter Filbinger als
Ministerpräsident im Westen unseres Vaterlandes zusagte, genauso wenig wollten wir die Nachfolger Honeckers als mögliche Regierungschefs in Ostdeutschland erleben.
Natürlich war die DDR ein Unrechtsstaat. Ein Unrechtsstaat, in dem selbstverständlich nicht jeder Mensch jeden Tag Unrecht tat. Der Staat war es, der seinen Insassen die Freiheit, die Demokratie,
freie Wahlen, die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit – kurz die eigenständigen Mitwirkungsrechte vorenthielt – und der sie aus politischen Gründen inhaftierte, wenn er es für nützlich hielt.
Die Menschen mussten sich darin einrichten und das Beste für sich daraus machen. Die meisten haben genauso anständig gelebt und ihre Kinder erzogen, wie die meisten Menschen anderswo auch.
Es war eine Minderheit, die sich auf die Diktatur mit den Mitteln dieser Diktatur einließ. Und mit dieser Minderheit will ich auch heute noch nichts zu tun haben. Doch anders als in Diktaturen,
in denen Andersdenkende eingesperrt oder vernichtet werden, können sich die Gegner dieser Demokratie in dieser wählen lassen und in Parlamenten auftauchen. Das ist ein gewaltiger Unterschied! Nur
die Zusammenarbeit mit jenen ist nicht erzwingbar! Das ist keine Fortsetzung des Kalten Krieges, es ist Handeln an der Trennlinie von Freiheit und
Unfreiheit!
Erfahrungen in der Demokratie
Seit beinahe 20 Jahren haben wir in Ostdeutschland die Freiheit und die Demokratie, seit 19 Jahren leben wir
gemeinsam in der neuen Bundesrepublik und machen wir Ostdeutschen reale Erfahrungen in unserem neuen alten Land. Der heutige festliche Tag kann nicht der Tag eines vor allem kritischen Abrisses
sein.
Erste Bemerkung: Mich stören die pawlowschen Reflexe. Sobald eine Partei einen Vorschlag äußert, stürzen sich alle anderen mit rituell eingeübten Niederschlagsargumenten blindlings darauf. Der
Wille, Argumente der Anderen zu prüfen kommt leider oft zu kurz. Das muss anders werden. Wir machen damit die Menschen Demokratie-müde.
Zweite Bemerkung: Die Bundesrepublik ist föderal verfasst und leistet sich demgemäß 16 verschiedene Bildungssysteme.
Was den immer mobileren Familien mit ihren schulpflichtigen Kindern damit zugemutet wird, ist der kritischen Nachfrage würdig.
Franz Müntefering machte sich unlängst Gedanken zum Grundgesetz und zu einer Verfassungsdiskussion. Franz Müntefering hat Recht! Das Grundgesetz kann nur gewinnen, wenn es in einer
Volksabstimmung zur Verfassung erhoben wird!
Richtig ist, dass die Ostdeutschen 1990 schnell die Einheit unter dem Schutz des Grundgesetzes nach Artikel 23 wollten. Weise war aber auch das Versprechen des alten Artikels 146 des
Grundgesetzes, wonach sich das vereinigte Deutschland eine gemeinsame Verfassung geben wird. Wir sind seit 1990 wieder vereinigt, haben ein gutes Stück zusammengefunden und leben gern auf dem
Boden des Grundgesetzes.
Was spricht dagegen, dieses Grundgesetz als Verfassung zu haben? Eine Verfassung, die in großer Mehrheit vom Volk angenommen wird, macht den Staat Bundesrepublik noch fester zum Staat derer, die
hier leben.
Und wir müssen den Menschen klarmachen, dass die Demokratie nur ein Prinzip ist, welches Problemlösungen friedlich herbeiführt. Wie diese Lösungen ausfallen, das erreichen die am demokratischen
Diskurs Beteiligten. Wer sich nicht beteiligt, der muss damit leben, dass andere ihre Vorstellungen einbringen und diese durchsetzen können. Demokratie ist kein Schaufenster, die Demokratie lebt
von Einmischen und Mitmachen. Auch ist die Demokratie, kann es gar nicht sein, ein Garant für Gerechtigkeit und allgemeines Wohlergehen. Was gerecht ist und was Wohlergehen erzeugt, dass wird
immer wieder demokratisch diskutiert werden müssen. Jeder Mensch, jede Gruppe hat hier ihre eigenen Vorstellungen und legt diese auf den Tisch der Demokratie.
Ein letztes Wort zur vorangegangenen Diskussion um diese Festveranstaltung. Anders als 1815 in Frankreich die Restauration der Bourbonen staatlich organisiert wurde, verläuft der aktuelle
Restaurationsprozess schleichend und wird leider irgendwie hingenommen. Außer es werden dumme Fehler gemacht. Und es ist ein großer dummer Fehler, entgegen dem Erleben der Zeitgenossen einen
Kader, der sich im Herbst 1989 durchaus anständig verhielt, für die Ziele und Ergebnisse der friedlichen Revolution 1989/90, eine Revolution, die er mit Sicherheit nicht wollte, reden zu lassen.
Dies ist anmaßend. Genauso anmaßend wie sich Ihre Vorgänger bis 1989 tagtäglich verhalten haben und wofür sie davon gejagt wurden.
Sehr geehrter Frau Oberbürgermeisterin, Sie haben Ihr hohes Amt vorsätzlich beschädigt.
Vielen Dank!
