
Foto: Fundstück FB
Marko Martin
Utz Rachowski Reiner Kunze
Laudatio Utz Rachowski
Sehr geehrte Damen und Herren,
lieber Reiner Kunze,
sehr geehrte Frau Renate Braun und die Vertreter der Reiner- und Elisabeth-Kunze-Stiftung,
lieber Marko Martin,
lieber Herr Oberbürgermeister Thomas Lein, dem ich noch herzlichst gratulieren möchte zu seiner Hochzeit gerade jetzt im vergangenen Sommer!
Ich freue mich, Ihnen allen heute die Person und das Werk unseres Preisträgers Marko Martin näherbringen zu können.
Marko Martin – Weltbürger und Menschenfreund
Wir sollten uns Marko Martin als glücklichen Menschen vorstellen. Dies aber war ihm vielleicht nicht in die Wiege gelegt. Oder doch?
1970 in Burgstädt geboren. In einem seiner Bücher schreibt er: „17, 18 Jahre alt, und das verfluchte Nest hieß Wittgensdorf…“, wo die Familie inzwischen wohnt und er aufwächst. „87, 88, der gleiche stinkende verseuchte Dorfbach, dazu in der Lehrwerkstatt des VEB „Trikotex“ diese Geruchsmischung aus Eisenspänen und Schweiß. Die „Traditionsecke“ mit der roten Fahne und den Schwarzweißfotos: Lehrmeister Nebel und Lehrmeister Fuchs in der Uniform der Kampfgruppen, Direktor Baeßler auf dem Berufsschulhof beim Fahnenappell, auch er in Uniform. Schließlich gab es hier, bei den auszubildenden Elektronik-Lehrlingen ‚eine Konzentration freiwillig Längerdienender‘. Jungen, die sich hatten werben lassen als spätere Offiziere in der Armee, aber auch einer, der mir sagte, ‚woanders hin, ganz woandershin‘ habe er sich verpflichtet und mich bat, ihm ab nun nichts mehr Privates zu erzählen. Zehn Monate bis zu meinem Rausschmiss, und jeder morgen eine Tortur… dies würde nie vorübergehen…“.
So dachte und fürchtete Marko Martin, der sich so jung und einzeln unterschied, sich entschied zwischen und von den Vielen, nicht mitzutun und die sogenannte „Vormilitärische Ausbildung“ in Uniform mit abgesägten Holzknarren standhaft über Monate verweigerte.
Etwas später wurde es für ihn wesentlich gefährlicher, als angekündigter Verweigerer des Wehrdienstes war er mit Gefängnis von bis zu zwei Jahren bedroht. Sein Vater hatte als Zeuge Jehovas genau diese Zeit abgesessen.
Es rettete ihn, nach zahlreichen Vorladungen und Verhören in der DDR, die Übersiedlung seiner gesamten Familie im Mai 1989 in die Bundesrepublik, eigentlich ein Wunder, das genau zur rechten Zeit über die Familie kam. Auf eigenen Wunsch bestehen sie darauf, am Bodensee zu leben und finden nach einem kurzen Intermezzo im Lager Gießen im Aufnahmelager Rastatt Unterkunft. Und wir sehen Marko Martin ab jetzt als glücklichen Menschen, der sich noch zwanzig Jahre später erinnert und in seinem Buch „Schlafende Hunde“ seiner Familie dankt und rückblickend schreibt:
„Der Junge hatte nie ein Halstuch getragen, weder ein rotes noch ein blaues. Als er auch das blaue Hemd verweigerte, schien ein von außerhalb an die Schule versetzter Lehrer kurze Zeit prüfen zu wollen, ob es inzwischen nicht möglich wäre, einen Keil zwischen den Jungen und seine Familie zu treiben. in kürzer werdenden Abständen wurde er nun vor der Klasse gefragt, ob er nicht ein bisschen traurig sei. So oft außerhalb zu stehen und dabei immer die Entscheidungen des Vaters ausführen – is doch ne Schande, Jugendfreund. Lieber der Vater als der Staat. Es geschah nicht zum ersten Mal, dass der Junge dies dachte. mit Schrecken stellte er sich vor, was passiert wäre, hätte er keinen solchen Vater gehabt, der ihn nicht nur davor bewahrt hatte, ein Hortkind zu werden, das nach dem Ende des Unterrichts Papp-Panzer bastelte, Zeitungsartikel für die Wandzeitung ausschnitt… sondern der später mit diplomatisch ausgefeilten Briefen auch verhinderte, dass sein Sohn bei Fackelmärschen mitlaufen oder zu Manöverspielen durch den Wald robben musste…“ (aus Marko Martins Erzählung: „Vater schreibt einen Brief“ in „Schlafende Hunde von 2009).
Im Mai 1989 also am Bodensee angekommen, wo er wieder zur Schule geht, überall dort freundlich aufgenommen und sogar beim Französisch-Lernen selbstlos unterstützt wird von Lehrern, eine Sprache, die ihm noch nützlich werden sollte. Später studierte er Germanistik, Politikwissenschaft und Geschichte an der Technischen und an der Freien Universität Berlin mit dem Abschluss als Magister und lebte aus Gründen der Liebe bald danach jahrelang in Paris.
Ein weiteres Wunder aber begleitete bereits all diese glücklichen Umstände und Fügungen: Gleich nach der Ankunft der Familie im Westen im Aufnahmelager Gießen, las Marko Martin zufällig, dass an einem der wenigen Abende, die die Familie in diesem Lager verbrachte, kein anderer als Reiner Kunze eine Autorenlesung in Gießen halten würde. Aber auch dieser Abend hatte eine längere Vorgeschichte – und hier kommt der Namensgeber dieses Preises, den wir heute vergeben, mit Marko Martin zum ersten Mal, wiederum glücklich, zusammen.
Denn noch in der DDR hatte sich Marko Martin auf der Buchmesse in Leipzig am Stand bei S. Fischer die Verlags-Adresse in Frankfurt besorgt und Reiner Kunze einen Brief geschrieben, „nicht wissend“, wie er in seinem Buch „Treffpunkt 89“ erinnert, „um die potentiellen Risiken solcher ‚Kontaktaufnahme‘“. Allein, und das will ich hier aus persönlicher Erfahrung einfügen, saßen in meiner Gefängniszelle in Cottbus von 18 Inhaftierten, vier wegen eben dieses Paragrafen der „staatsfeindlichen Verbindungsaufnahme“. Aber Marko Martin hatte wiederum Glück und eine Postkarte aus dem Westen mit einem Emil-Nolde-Motiv traf für ihn ein, unterschrieben von einem Herrn Toni Pongratz; wie wir alle heute wissen, ein enger Freund und auch Verleger Reiner Kunzes. Eine weitere Karte kam aus Brüssel mit den Zeilen „Es ist auf den Weg gebracht. Händedruck…“. Der Gedichtband eines jeden einziges leben traf genau drei Wochen vor der Ausreise der Familie in den Westen ein. In Gießen dann die erste Begegnung mit Reiner Kunze anlässlich dessen Lesung, nur vier Tage nach der Ankunft der Familie. Marko Martin hatte auch diesen Gedichtband Reiner Kunzes beschützt und bei sich behalten Richtung Hessen: „Meine Manuskripte aber, die Tagebücher und mit Pauspapier kopierten, aus der Unfreiheit abgeschickten Briefe – dazu die zwei Westpostkarten, Kunzes Gedichtband… - versteckt inmitten des Gepäcks meiner kleinen Schwester, ohne dass die Mutter davon wusste. Und in einer Schuhsohle, die Vater noch gestern zusammengenäht hatte, der Negativstreifen mit den abfotografierten Dokumenten über seine zweijährige Haft als Kriegsdienstverweigerer.“
Marko Martin beschreibt die erste persönliche Begegnung mit Reiner Kunze nach dessen Lesung als anregendes Gespräch, bei Kunze nichts vom Jammer eines Emigranten, auch nichts von Verachtung und Kleinmachen etwa von Autoren wie Christa Wolf und Stefan Heym, den Marko Martin noch in der DDR besucht hatte und der ihm entmutigend sagte „Weggehen verändert gar nichts junger Mann…“. Vielleicht hatte der immerzu vorsichtig taktierende Stefan Heym nicht mehr gewusst, dass das Weggehen den Gehenden verändern und retten kann…
Es folgte in diesem Gespräch noch ein typischer Reiner-Kunze-Satz, man müsse sich halt entscheiden, ob man den Nationalpreis oder den Büchnerpreis bekommt.
Ich will’s heute nicht übertreiben, aber meiner Meinung nach hat Marko Martin bereits mit seinem bisher vorliegenden Werk auch diesen verdient. Und ich freue mich, Ihnen heute schon mitteilen zu können, dass er im Oktober in der Deutschen Nationalbibliothek in Frankfurt/Main den Ovid-Preis des „PEN-Zentrums deutschsprachiger Autoren“ erhalten wird, in dem wir beide Mitglieder sind. Bescheiden füge ich hinzu, dass ich der Jury angehöre.
Wer denkt, wenn von Elisabeth und Reiner Kunze die Rede ist, nicht auch sofort an Tschechien, an Prag und an 1968. Ein reichliches Jahr nach der Übersiedlung in den Westen steht Marko Martin am 21. August 1990 in Prag wieder auf dem Wenzelsplatz wie schon einige Male in seinen DDR-Jahren, jetzt zusammen mit den vielen vor Glück weinenden Menschen, die Vaclav Havel und Alexander Dubćek auf der Tribüne beklatschen. Er beschreibt, wie sich Havel mit hüstelnder Raucherstimme bei den tausenden Menschen entschuldigt – dafür, dass es an diesem Tag: regnet. Und in dem Lächeln der Menschen über diese Worte schien fast vergessen, dass es den ganz anderen August 1968 gab und eine halbe Million fremder Soldaten, die das Land damals für über 20 Jahre okkupierten.
Der einst gejagte, so oft über Jahre inhaftierte Schriftsteller Vaclav Havel als Präsident des nun freien Landes. Jiři Gruša, Pavel Kohout, die „Charta 77“, oder unsere großen Vorbilder in der polnischen Literatur, Czesław Miłosz, Zbigniew Herbert, unser gemeinsamer Freund Adam Zagajewski – Marko Martin fragt und zitiert Jürgen Fuchs: „Wo waren in der DDR jene älteren Schriftsteller und Intellektuellen mit der moralischen Kraft etwa eines Władisław Bartoszewski, die als Opfer des Nazismus eine klare antifaschistische und antistalinistische Position bezogen haben und uns Jüngeren damit ein Beispiel gaben?“ – Dies war eine schmerzliche Leerstelle auch in meiner Jugend, füge ich hinzu, die ich bis heute fühle und nach deren Ursache ich vielleicht noch immer auf der Suche bin…
Aber Marko Martin wird sich aufmachen und diese Menschen tatsächlich suchen und finden, besuchen und interviewen, über Jahrzehnte hinweg. Das wird zu einem der Hauptstränge seines großen und umfangreichen Werkes. Er fängt früh damit an und porträtiert zu Beginn in einer Reihe der Wochenzeitschrift „Freitag“ die aus der DDR vertriebenen und ausgebürgerten und daher im Osten beinahe unbekannten Schriftsteller, eben auch der jüngeren Generation, wie Jürgen Fuchs. Auch ich bin ihm dafür persönlich dankbar bis heute, er setzte 1993 im RIAS Berlin eine Stunde Sendezeit für mich durch, und das, nach dem der Redakteur meine Texte fast 10 Jahre lang abgelehnt hatte u.a. mit dem Satz, „man könnte sie durchaus senden, aber man kann es auch bleiben lassen“ – das war der Ton, wenn man vor 1989 als junger ausgebürgerter und aus dem Gefängnis kommender Autor bei Verlagen und Radiosendern in der alten Bundesrepublik vorstellig wurde, dies änderte sich erst nach dem Fall der Mauer…
Marko Martin, aber mit den ersten guten Ratschlägen versehen von Reiner Kunze und Jürgen Fuchs machte sich auf und – es ist nicht übertrieben zu sagen – interviewte die wichtigsten Zeugen des 20. Jahrhunderts, weltweit, und schrieb darüber in seinen Büchern und veröffentlichte es vorher in der FAZ, in „Die Welt“ oder in der „Jüdischen Allgemeinen“.
Es wäre abendfüllend, würde ich all diese Namen der von Marko Martin Interviewten und von ihm in aller Welt Besuchten aufführen, ich beschränke mich auf wenige Namen und bitte Sie, diese Werke unbedingt selbst einmal zu lesen. In seinen Büchern „Treffpunkt '89: von der Gegenwart einer Epochenzäsur“ 2014, „Dissidentisches Denken: Reisen zu den Zeugen eines Zeitalters“ 2019 und "‘Brauchen wir Ketzer?‘ Stimmen gegen die Macht: Portraits“ von 2023 sind diese Namen unter vielen anderen aufgeführt: von Ralph Giordano bis Hans Sahl, den er schon früh besuchte und der ihm weitere Empfehlungen für wichtige Kollegen gab. Jürgen Fuchs machte ihn auf Manés Sperber aufmerksam, dessen Worte direkt auf Marko Martin zugeschnitten zu sein scheinen: „Der Mut zur Wahrheit, ohne aufzuhören (und das ist das Schwierigste), für Freundschaft und Zärtlichkeit einzutreten“.
So umkreist er in seinen Büchern an Hand der Lebenswege und Werke der Interviewten immer wieder das Versagen eines großen Teils der deutschen und auch europäischen Intellektuellen im Angesicht des Faschismus und Stalinismus im 20. Jahrhundert. Und Marko Martin findet darüber zeitlich weit hinaus immer wieder die deutlichen Parallelen zur Gegenwart. Wie gegenwärtig ist doch der Konflikt von 1983, den er beschreibt: „Es lag nahe, einen Jahrhundertzeugen wie Sperber mit dem Friedenspreis des deutschen Buchhandels auszuzeichnen. Doch schien im aufgeheizten Jahr 1983 während der Debatte um die Nachrüstung die Realität der diktatorischen Sowjetunion und ihrer Satelliten weit weniger bedrohlich als die Existenz von Pershing II: Lieber rot als tot. Sperbers Preisrede… wurde äußerst ungnädig aufgenommen und als ‚Kriegshetze‘ denunziert… seine in Frankfurt verlesenen Sätze galten vielleicht gerade deshalb einem bestimmten Milieu als unerträgliche Provokation. Mit Verweis auf Europas Selbstzerstörung im Sommer 1914 und Hitlers Zweiten Weltkrieg fasste Sperber die drohende Gefahr weiter, als es das Gros der bundesdeutschen Friedensbewegung tat: ‚Wer, anstatt über die Quelle und Gründe der Kriegsgefahr nachzudenken, seinen leidenschaftlichen Protest nur auf die Waffen reduziert, vermeidet bewusst oder unbewusst die Suche nach dem Feuerherd und erliegt der heute weitverbreitenden Neigung, die Mittel mit dem Zweck zu verwechseln‘. Der Skandal war enorm“.
Manés Sperber wurde vom Vorsitzenden des Verbandes Deutscher Schriftsteller und auch von den Grünen aufgefordert, den Friedenspreis zurückzugeben.
Meine Damen und Herren, damit sind wir direkt in der Gegenwart angekommen. Einer der von Marko Martin Interviewten, André Glucksmann, der französische Philosoph, gibt bereits 2009 in einem Gespräch mit Marko Martin in Paris zu bedenken und legt den Finger in diese Wunde, die bis heute offen ist: „Aber wer sagt denn, dass die ‘großen Themen‘ von Genozid und Diktatur mit unserem Alltagsleben nichts zu schaffen hätten und nur ein Feld für Debatten-Intellektuelle wären? Meinst du wirklich, Details der Rentenfinanzierung seien letztlich entscheidender als die Frage, ob Deutschland auch in Zukunft von Putins Erdgas abhängig bleiben möchte?“. Diese Frage, von dem französischen Philosophen 13 Jahre vor Beginn des russischen Überfalls auf die Ukraine in den Raum gestellt, führt direkt zu Marko Martins Fragen an den deutschen Bundespräsidenten, November 2024, zu seiner „Bellevue-Rede“.
Bedeutend gleich zuerst, steigt er ein und sagt, gerichtet an die polnischen Teilnehmer des Festaktes zum 35. Jahrestag des Falls der Mauer, da die Polen nicht zu Wort gebeten wurden, dass es ohne Polen und Solidarność überhaupt kein 1989 gegeben hätte, Peng, Akt. Zweiter folgt zugleich: „Millionen von DDR-Bürgern waren jedenfalls damals nicht auf der Straße gewesen, sondern hatten quasi hinter den Wohnzimmergardinen abgewartet – was im Übrigen kein Werturteil ist, sondern lediglich ein quasi nachgetragener Fakten-Check, der so manch fortwirkende Mentalitäten erklärt… Weshalb ist wohl, sowohl nach repräsentativen Umfragen wie auch nach der Stimmung auf der Straße, in den Büros und Betrieben und an den abendlichen Küchentischen, die überlebensnotwendige Unterstützung der mörderisch angegriffenen Ukraine im Osten signifikant weit weniger populär als im Westteil des Landes?
3. Akt: „Wiederholt sich (das) heute nicht in jenen eiskalten Forderungen, mit denen die überfallene Ukraine gedrängt wird, endlich ihren Widerstand einzustellen und sich den russischen Besatzern kampflos auszuliefern… Doch weshalb plötzlich auch diese Inflationierung des Friedens-Begriffs, obwohl die übergroße Mehrheit der in der DDR aufgewachsenen Jugendlichen und Männer einst den Kriegsdienst ebenso wenig verweigert hatte, wie zuvor die Teilnahme am Wehrkundeunterricht in der Schule, die vormilitärische Lager-Ausbildung in der Lehrzeit und späterhin die Übungen der sogenannten ‚Betriebskampfgruppen‘? Wirkt hier womöglich noch immer jene Regime-Propaganda nach, die ‚Frieden‘ nur dann gewährleistet sah, wenn es den Machtinteressen des Kreml diente…?
Solidarność als Gefahr für den Weltfrieden?“ – wie Egon Bahr 1982 in der Zeitschrift „Vorwärts“ schrieb.
Fortsetzung Marko Martin: „Währenddessen scheint es, dass die als Geo- und Realpolitik kaschierte Verachtung, die einst aus den Worten Egon Bahrs sprach, noch heute fortwirkt. Schon wird Gerhard Schröder, nach wie vor reuelos großsprecherischer Duzfreund des Massenmörders im Kreml, vom neuen Generalsekretär der Kanzlerpartei garantiert, dass selbst für ihn weiterhin Platz sei in der deutschen Sozialdemokratie. Dies übrigens zum gleichen Entsetzen der Osteuropäer und gestandener Sozialdemokraten, mit dem sie 2016 aus dem Mund des damaligen Außenministers hören mussten, die Nato-Manöver an der Ostflanke, um die dortigen Demokratien zu schützen, seien ‚Säbelrasseln und Kriegsgeheul‘. Säbelrasseln und Kriegsgeheul? Sehr geehrter Herr Bundespräsident und bei allem Respekt: Auch das Nord-Stream-Projekt, an dem SPD und CDU so elend lange gegen alle fundierte Kritik festhielten, war nur insofern ‚eine Brücke‘ – Ihre Worte noch vom Frühjahr 2022 – als dass es Putin in seinen Aggressionen zusätzlich ermutigte und zwar in seinem Kalkül, dass die Deutschen, ansonsten Weltmeister im Moralisieren, das lukrative Geschäft schon nicht sausen lassen würden, Ukraine hin oder her…“
Lassen Sie mich der Rede von Marko Martin noch kurz hinzufügen, dass meine Freunde in Polen in ihrer poetisch-historischen Schärfe schon jahrelang zuvor Nord Stream 2 als „die Ribbbentrop-Molotow-Leitung“ bezeichneten, die sich vor allem gegen Osteuropa richtet.
Aus den polnischen Aufständen des 19. Jahrhunderts stammt das Bonmot Für unsere und eure Freiheit und Marko Martin sagte dem Publikum im Schloss Bellevue: „Es ist die gepeinigte Zivilbevölkerung in der Ukraine und ebenso sind es die Soldaten und Soldatinnen der ukrainischen Armee, die mit ihrem Widerstand auch unsere seit 1989 gesamtdeutsch existierende Freiheit zu schützen versuchen – auch jetzt, in dieser Minute und unter unvorstellbaren Opfern… Wenn… gerade jetzt 35 Jahre nach dem Mauerfall häufig und oft zu Recht von diesem oder jenem „Defizit Ost“ die Rede ist – wie wäre es dann gleichzeitig mit einer Debatte zu jenem Erkenntnis-, Handlungs- und Ehrlichkeitsdefizit West, das es doch ebenso einzugestehen und zu überwinden gelte? Und zwar nicht als rein rhetorische Bußübung, sondern als notwendiger Abschied von gesamtdeutschen Lebenslügen und Verdrängungen, denn diese kosten anderswo, ganz konkret und fürchterlich, Menschenleben.“
Das waren Worte, offenbar zu viel für einen deutschen SPD-Politiker alter Schule. Wie Marko Martin berichtet, sprang der Bundespräsident danach wütend auf ihn zu und drückte ihm, zerdrückte ihm fast die Hand. Dann diese dessen Floskeln im Sinne, wenn Sie wüssten, was wir alles im Hintergrund getan haben und tun und übrigens sind Sie hier zu Gast in diesem Haus, was erlauben Sie sich…
Was meine eigenen Beobachtungen des moralischen Verfalls der deutschen Gegenwartspolitik wieder schmerzlich bestärkte. Ich war davon nicht überrascht, doch für den Mut Marko Martins unendlich dankbar, begeistert über diese „Sternstunde in Demokratie“.
Denn was hatten wir ab 2022 sehen müssen: Deutschland schickte zum Gespött einiger europäischen Nachbarn nach den Bombardierungen ukrainischer Städte „Mützchen“, wie sie spotteten, einige tausend Helme, später vergingen Monate über der Diskussion, ob ein Panzer eine „schwere Waffe“ sei, bis man sich schließlich zu einer deutlichen Unterstützung der ukrainischen Armee durchrang, begleitet weiterhin vom Hin- und Her, ob die gelieferten Waffen auch für die Zerstörung des Nachschubs der russischen Armee auf deren Territorium eingesetzt werden dürften…
Hatte nicht einer, Reiner Kunze heißt er, schon nach der kriegerischen Annexion der Krim 2014 dieses Gedicht geschrieben:
UKRAINISCHE NACHT
Der Karpatenrücken
lädt dich ein
dich zu tragen
Rose Ausländer
Das land,
verstümmelt,
veruntreut,
verraten,
hob mich auf den rücken der Karpaten,
und im wachtraum hörte ich
die dichterin die mutter fragen,
was diese gern geworden wäre, und die muttter sagen:
eine nachtigall
Da begannen alle nachtigallen
in den hainen, die ich in mir trug, zu schlagen,
und ich hörte schüsse fallen
und den namen widerhallen:
Maidan, Maidan
Und in des namens klang
klang der name an
des dichters, dessen wort wir in uns tragen:
Der Tod ist ein Meister aus Deutschland
Doch weiß man hier, der tod kam nicht
aus Deutschland nur, er kam
mit zweierlei gesicht,
und riesig ist das land, wo man
ihm blumen steckt und ruhmeskränze flicht
aus: Reiner Kunze „die stunde mit dir selbst“
Ist, so frage ich, ist Marko Martin nun vor allem ein politischer Autor? Ja auch, aber bei weitem nicht nur. Denn ein weiterer Hauptstrang seines Schreibens sind Bücher über seine Reisen in die Welt, begleitet zumeist von Reportagen in den oben genannten Zeitungen. Einige Titel wiederum nenne ich:
Mit dem Taxi nach Karthago: ein Ex-Ossi entdeckt die Welt 1994
Die Nacht von San Salvador: ein Fahrtenbuch 2013
Kosmos Tel Aviv: Streifzüge durch die israelische Literatur und Lebenswelt 2013
Madiba Days: eine südafrikanische Reise 2015
Tel Aviv: Schatzkästchen und Nussschale, darin die ganze Welt 2016
Umsteigen in Babylon 2016
Das Haus in Habana: ein Rapport 2019
Die letzten Tage von Hongkong: Literarisches Tagebuch 2021
Jetzt hochaktuell zum Krieg im Nahen Osten:
„Und es geschieht jetzt: Jüdisches Leben nach dem 7. Oktober 2023“
- und soeben im September erschienen: „Freiheitsaufgaben“, 2025.
Tel Aviv, diese israelische Stadt am Meer, nennt Marko Martin seine zweite Heimat. Wie ich vermute und las, hatte er dort auch sein Coming Out, fand dort zu seiner wahren sexuellen Orientierung. Diesen weiteren Themenkreis seines Schreibens findet man immer wieder auch in seinen Reiseberichten, eine Mischung aus politisch-literarischer Reportage und Beschreibung der Erfahrungen und Erlebnisse in den Schwulen-Milieus verschiedener Länder. Sein Buch „Umsteigen in Babylon“ von 2016 z. B. signierte er mir mit den Worten, dass er in einem der Clubs auch einen Jungen aus Plauen im Vogtland traf und dem augenzwinkernden Hinweis, dass ich ruhig aufhören solle weiterzulesen, wenn es mir zu viel werden würde…
Ein Leser dieses Buches schreibt begeistert: „Umsteigen in Babylon: 'Linoleum-Thais' und 'Kuckucksuhren-Osteuropäer', Iraner mit Rolex und Kubaner mit Kapuzenshirt – Marko Martin reist um die Welt, flaniert durch Berlin und lässt sich mitnehmen, aufpicken, abschleppen. Der Blick in die Wohnungen, in die Schlafzimmer fremder Länder fördert manche Wahrheit zutage, die sexuellen Gewohnheiten, Lebenslügen und Sehnsüchte seiner Dates erst recht: 'Aber wovon sie alle schwärmen, alle, ist Tel Aviv. Stell dir vor, ausgerechnet das verbotene, ihnen unzugängliche Tel Aviv, der Traum von nackten Israeli-Soldaten.' Wenn der Weg zum Kennenlernen auch erst einmal durchs Bett führt, taugt diese geballte Ladung internationaler Affären kaum als Porno, denn seine Geschichten sind umrankt und durchdrungen von vielfältigen literarischen Inspirationen“.
In seinem Buch „Madiba Days: eine südafrikanische Reise“ von 2015 schildert er, wie ihn in der Nacht des 5. Dezember 2013 in Kapstadt die Nachricht vom Tod des legendären Freiheitskämpfers Nelson Mandela erreicht, gleichzeitig gemahnt ihn die abgeschottete Welt der hiesigen Buren an die eigene Kindheit. Seine assoziierenden Aufzeichnungen werden damit zu einem Stück Erinnerungsliteratur: Seine Eltern, deren Mitgliedschaft bei den Zeugen Jehovas ihn vor realsozialistischer Indoktrination schützte und dennoch geistig beengte – bis schließlich die ganze Familie der Sekte und dem Staat Adieu sagte. Am Schluss dieser episodenreichen, mit Präzision und Verve erzählten Reise findet sich der Autor in der quirligen Welt von Mandelas politischen Enkeln wieder – NGO- und Gay-Aktivisten, die nun der Geißel der Homophobie den Kampf ansagen, das Subversive des Eros dabei nicht vergessend.
Sein Buch „Die letzten Tage von Hongkong“ berichtet von einer Reise mit seinem Partner dorthin, sie geraten am 1. Januar 2020 in eine Demonstration von Bürgerrechtlern in dieser Stadt, es soll die allerletzte werden, die die einstige Insel der Freiheit erlebt.
Der Nobelpreisträger Mario Vargas Llosa, übrigens auch ein Interview-Partner von Marko Martin, schrieb über dieses Buch: „Marko Martin hat eine bewundernswerte Gabe, die Dinge zu sehen; durch seine Augen werden die Dissidenten in Hongkong als Menschen erkennbar, Menschen mit einer ungewissen Zukunft.“
Diese Anregungen, mehr erlaubt mir die Zeit heute Abend nicht, sind gedacht für Sie, liebes Publikum, als Beispiele zum Kennenlernen des umfangreichen und weit gefächerten literarischen Œuvre Marko Martins, und ich verweise auf die Worte der Pulitzer-Preisträgerin Anne Applebaum: „Marko Martin ist nicht nur ein bemerkenswerter Autor, er ist ein wahrer Humanist. Was er schreibt, muss man gelesen haben.“
Vor allem auch seine literarischen Erzählungen bitte, denn ich weiß, dass er auf sie mit Recht besonderen Wert legt.
Hier sind vor allem zu nennen, die in der berühmten Die andere Bibliothek erschienenen Prosabände „Schlafende Hunde“ von 2009 und „Die Nacht von San Salvador“ 2013, die seinem Buch „Umsteigen in Babylon“ vorausgehen.
Im Buch „Schlafende Hunde“ zum Beispiel, bewegend, beinahe traurig stimmend, die Geschichte „Cocain“, eines in Ostdeutschland ehemalig politisch Verfolgten, der seinen Lebensunterhalt durch Führungen in Gedenkstätten des wiedervereinigten Deutschland verdient – aber für den der befreiende Fall der Berliner Mauer, das Ende des Systems, zu spät kam. Er ist beinahe fünfzig und reist nun regelmäßig nach Nizza, vor allem und eben auch, um seine sexuelle Orientierung zu leben, gerade dies seinem Verfolgten-Trauma entgegen zu stellen – und erkennt und er-fühlt: auch hier ist er zu spät gekommen, um in den Schwulen-Bars und Clubs in seinem Alter noch Bedeutung zu haben.
Ich bewundere gerade auch diesen nachdenklichen und nachfragenden Ton, der sich im Schreiben von Marko Martin immer findet und Realitäten widerspiegelt. Seinen humanen Grundton, auch wenn er sich plötzlich selbst fragt:
„Könnte es sein, dass ich, im Mai 1989 in die Bundesrepublik gekommen, auch nach über zwei Jahrzehnten die Codes des juste milieu nicht so richtig kapiere? Unauflöslicher Widerspruch zwischen der im Grunde so angenehmen, urbanen Gewandtheit dieser Leute und den unsichtbaren Panzern und Scheuklappen, die sie dennoch so dünkelhaft mit sich herumtragen.“
Doch, in der Liebe, lieber Marko, sind wir alle Sisyphos und rollen den Stein, der uns immerzu aus den Händen gleitet. Gleiches gilt vielleicht auch für unser Schreiben.
Man muss sich Marko Martin als einen glücklichen Menschen vorstellen.
Ich gratuliere dir herzlich, lieber Marko Martin, zum Reiner-Kunze-Preis 2025!
Utz Rachowski, Oelsnitz/Erzgebirge, 26. September 2025
(erster Preisträger des Reiner-Kunze-Preises 2007)
