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Einer, der Nein gesagt und mit seinem Leben bezahlt hat

 

 

 

 

Gerold Hildebrand rezensiert 

 

Peter Wensierski

Jena-Paradies: Die letzte Reise des Matthias Domaschk

Ch. Links Verlag, Berlin 2023, 368 Seiten. Hardcover mit Schutzumschlag und Abbildungen. 25,00 €

ISBN: 978-3-96289-186-2

EAN: 9783841232151

 

https://www.aufbau-verlage.de/ch-links-verlag/jena-paradies/978-3-96289-186-2 

 

 

Freiheit und Selbstbestimmung 

Einer, der Nein gesagt und mit seinem Leben bezahlt hat 

 

In seiner faktengestützten fiktiven Reportage über Matthias Domaschk, der im April 1981 in Gera bei der Stasi ums Leben kam, fabuliert der Journalist Peter Wensierski auch über das Innenleben der Geheimpolizei und folgt dabei Stasi-Akten und Gesprächen mit Stasi-Angehörigen.

 

Das wird jetzt ein ziemlich ausufernder „Klopper“. In nicht so ausschweifender Form ist die Rezension auf der Seite der Robert-Havemann-Gesellschaft zu finden. Vielleicht ist das hier auch keine richtige „Rezension“, weil sie nicht nur am Buch klebt, sondern etwas ausholt, was einem Zeitzeugen aber gestattet sein möge.

 

Das aktuelle Buch des ehemaligen „Spiegel“-Autors und „Kontraste“-Redakteurs Peter Wensierski handelt von einer Reise in den Tod und vom Leben in der Diktatur. Vor sechs Jahren hatte er die Leipziger Oppositionsszene Ende der 80er Jahre beleuchtet („Die unheimliche Leichtigkeit der Revolution: Wie eine Gruppe junger Leipziger die Rebellion in der DDR wagte“). Diesmal steht das Schicksal von Matthias Domaschk im Fokus sowie weitere Jenaer Rebellen. Zugleich versucht der Autor die konspirativ abgeschottete Phantasiewelt der Stasi-Hauptamtlichen und deren Kopfkino darzustellen. Ein schwieriges Unterfangen.

 

Wensierski verdeutlicht, dass vor über 40 Jahren in Jena und anderen Großstädten der dahingeschiedenen DDR eine muntere Jugendszene existierte, die ein kleines, aber dennoch wirkmächtiges Spektrum der Gesellschaft im SED-Staat verkörperte. Ihr aggressiver Widerpart war die Sozialistische-Einheiz-Partei und deren Schild und Schwert, das Ministerium für Staatssicherheit, eine Art Parallelgesellschaft.

Zwischen diesen Antipoden bewegten sich mehr oder minder Angepasste, die zuweilen zu willigen Helfern der linkstotalitären Herrscher wurden.

 

„Parallelgesellschaften“ sind heutzutage Clanstrukturen, Islamisten, Rechts- und Linksextremisten oder nötigende Klimapaniker. Damals in der DDR hatte eine linksextreme Parallelgesellschaft einen ganzen Staat unter Kontrolle: Die kommunistische Geheimpolizei Staatssicherheitsdienst, früher gern SSD abgekürzt und kleine Schwester des Großen Bruders KGB aus dem „ruhmreichen“ Sowjetrussland, deren Richtschnur der Rote Terror war.

 

Zwar wurde der offene Rote Terror in den 70ern durch diffizilere und nachhaltigere Methoden zur Bekämpfung der Opposition ersetzt. Schier unberechenbare gefährliche Kampfhunde blieben die paranoiden grauen Kampfgenossen dennoch. Die abstruse Feindbildproduktion wurde auch nach dem Tod des Massenverbrechers Stalin nicht eingestellt und hielt bis zur Friedlichen Revolution an. Stasi-Vernehmer und „operative Mitarbeiter“ bemächtigten sich der Psychologie, um sie zum Schaden des Menschen einzusetzen: Gefolgschaftsdruck, Angsterzeugung, Verunsicherung, Zersetzung und Individualitätszerstörung. In der Stasi-Terminologie auch Liquidieren genannt.

 

Nachvollziehbar wird im Buch die Paranoia der wesentlichsten Stützen des kommunistischen Herrschaftsapparats dargestellt. Aus dem Gemisch von marxistisch-leninistisch geprägtem sektenartigen Sendungsbewusstsein, feindbildgestützten Verschwörungstheorien (so glaubten die Stasi-Genossen, sie hätten es bei den Jenensern mit Terroristen zu tun) und skrupellosem Karrierestreben (eine Brechung und Anwerbung eines Feindes bringt Meriten) stand am Ende der Tod eines 23jährigen.

„Auch wenn er sein Hemd dazu genommen hat: Matthias Domaschk beging keinen Selbstmord. Er wurde in den Tod getrieben, und viele waren beteiligt“, resümiert der Autor im Nachwort auf Seite 359.

Der jenenser Dissident Siegfried Reiprich drückt es so aus: "Unser Freund Matz ist in der Stasi-U-Haft-Anstalt in Gera 'selbstgemordet' worden."

 

Um die damaligen Konflikte, Widerfahrnisse und Zumutungen eindringlich darzustellen, nutzt der Autor die journalistisch-romanhafte Schilderung und erzeugt ein spannungsreiches Bild, das sozusagen als Sittengemälde daherkommt. Handlungsgerüst sind die letzten drei Tage von der Festnahme bis zum Tod des Matthias Domaschk. Aber es gibt immer wieder Rückblenden, verpackt in Erinnerungen, die „Matz“, wie ihn alle seit seiner Görlitzer Schulzeit nannten, gekommen sein könnten während der tagelangen von anhaltendem Schlafentzug geprägten Festnahmesituation, die lediglich von Verhören durch Trapo, VoPos und Stasi-Offizieren unterbrochen wurde, angereichert mit viel Kaffee und ein bisschen Bockwurst.

 

Die streng am fast minutiösen Tagesverlauf vom 10. bis zum 12. April 1981 getaktete Erzählung weitet sich somit in noch länger Vergangenes. Dafür hat der Autor akribisch recherchiert, hat Familienangehörige, Schulfreunde und rund 170 Freunde und Bekannte von Matthias Domaschk ausgiebig befragt. Er hat nicht nur tausende Seiten an Stasi-Papieren gewälzt, sondern obendrein Akten anderer DDR-Repressions-„Organe“ sowie Tagebücher, private Aufzeichnungen, Briefe, Kalender und weitere Artefakte. Hinzu kommen Fotos und Dokumente, die in der Robert-Havemann-Gesellschaft und im Thüringer Archiv für Zeitgeschichte „Matthias Domaschk“ archiviert sind. Diese intensive dreijährige Recherchetätigkeit hat ein durchaus nachvollziehbares Bild ergeben.

 

Wie war die Elterngeneration geprägt? Sie hatte immer nur Unterwerfung und Selbstaufgabe gelernt - kaum war die eine Diktatur beendet, kamen „die Russen“ und die stalinistisch abgerichteten Exil-Kommunisten. Ihre internalisierte Anpassung predigten sie ihren Kindern: bloß nicht auffallen und nach Freiheit fragen! Vertrauensvolle Familienbande wurden gerade dadurch häufig gestört. Auch Matthias war von einem solchen Konflikt belastet. Den Einschärfungen widerstand er.

 

Deutlich wird in Wensierskis Werk, was für ein Mensch Matthias Richard „Matz“ Domaschk war, wie er lebte, worauf seine Hoffnungen gerichtet waren und was er zu durchleiden hatte. Matz bewahrte seinen Traum von einer menschlicheren Gesellschaft und behauptete sich gegen alle Versuche der Persönlichkeitszerstörung zum Beispiel bei der Nationalen Volksarmee.

 

Dadurch, dass er Teil der oppositionellen Szene in Jena, Weimar, Zeitz und anderen Städten war, war es dem Autor möglich, viele Ereignisse zu schildern, die diese Jugendopposition einerseits prägten und die sie andererseits aktiv und kreativ gestalteten.

Der Konflikt mit der Elterngeneration ist die eine Facette, dieser mag in der alten Bundesrepublik ähnlich stattgefunden haben. Der repressive Umgang mit Aufbegehren aber ist ein ganz anderer in einer Anti-Demokratie, die keine Rechtsstaatlichkeit kennt.

 

Im Westen konnte man das Land notfalls verlassen, wenn es einem nicht mehr gefiel. In der DDR gelang dies nur unter Mühen, ungewissem Warten, Gefängnisaufenthalt, Todesgefahr und der Nötigung zum totalen Heimatverzicht. Zudem erzeugte die isolationistische Abgeschottetheit und die spätestens mit der Schulzeit beginnende ideologische „antikapitalistische“ Zurichtung Hemmnisse, die sozialistische Sackgasse zu verlassen. Auch dieses Problem scheint im Buch auf.

 

Matthias wollte nicht in den Westen, das hatte er sich unglücklicherweise geschworen, und fluchte in einem letzten Brief zugleich „Scheiß Grenze!“

 

Was dann bleibt, ist eine existenzielle Ausweglosigkeit. Dem stolzen Dableiber ist die Abwanderung verwehrt, der aufrechte Gang aber würde unweigerlich in den Stasi-Knast führen - und der ist keine demokratische Wohlfühlsozialstunde. Genau dies wurde Matthias Domaschk in seinen letzten Lebensstunden noch einmal überdeutlich vor Augen geführt. Mit aller Macht. Ausgeliefert, isoliert und im Schlafentzugsdelirium befindlich wollte er dennoch nicht die Seiten wechseln. Am Ende steht ein Stück tragische Selbstbehauptung.

 

„Was bleibt, ist sein politisches Zeichen: Ihr kriegt mich nicht. Ich mache mich nicht gemein mit euch, nicht mit eurer Art zu leben, nicht mit eurer Diktatur.“ (Seite 359)

 

Ja, so könnte es gewesen sein, wenn damit auch die Todesumstände noch immer nicht restlos geklärt sind.

Relativ klar wird in der Schilderung aber auch, warum die Selbstmordthese heftig in Zweifel gezogen wurde im engsten Freundes- und Bekanntenkreis von Matz.

Einerseits ist evident, dass „denen“ (SED, Stasi, VoPos, sonstiges Kommunistenpack) alles zuzutrauen war und dass sie lügen und ihre Übergriffe verschweigen oder umdeuten; andererseits war Matthias Domaschk überhaupt nicht der Typ, der sich leichtfertig umbringt.

Unumstößlich bleibt, dass er dort, wo er starb, bei der Staatssicherheit, nicht freiwillig war. Was genau in seinen letzten Lebensminuten ablief, ist dabei eher zweitrangig.

 

Doch was ist Deutung? Da wären wir schon bei der schwierigeren Frage nach dem Wahrheitsgehalt von Rekonstruktionsversuchen historischer Ereignisse und Abläufe.

 

Natürlich ist immer Skepsis angesagt. Beißt man sich bei einer Fake-Nuss die Zähne aus und kommt dennoch nicht auf den verdaulichen Kern? Der allgemeinen und konkreten Verunsicherungen werden nicht weniger. Obzwar: ganz so schlimm ist es in dem Buch nun wieder nicht. Punktuell aber ist aus Sicht des Rezensenten, der in gewisser Weise auch Zeitzeuge ist, Kritik angebracht.

 

Befallen einen Zeitzeugen Bedenken, wenn er bemerkt, dass bestimmte relativ unwesentliche Details falsch oder ungenau dargestellt werden, erwacht Skepsis auch gegenüber anderen Behauptungen, die aber durchaus zutreffen können.

 

Lässt ein Autor dann auch noch jeglichen konkreten Quellenhinweis weg und ermöglicht somit keine genauere Nachprüfbarkeit, so werden gewisse Zweifel am Wahrheitsgehalt bedeutsamer neuer Thesen genährt. Das ging auch mir so.

 


Leider ist im Buch auch keine Übersicht über bereits erschienene Literatur enthalten.

Zu dem, was die Faszination der Jenaer Szene ausmacht, gibt es ja bereits die Studien von Siegfried Reiprich, Udo Scheer und Henning Pietzsch. Jürgen Fuchs und Renate Ellmenreich legten die ersten Problemaufrisse vor. Lutz Rathenow, Doris Liebermann und Thomas Auerbach haben ebenfalls darüber geschrieben. Einiges ist in den Aufarbeitungszeitschriften „Gerbergasse 18“ und „Horch und Guck“ zu finden. Letztere brachte 2003  ein Sonderheft heraus. 

https://web.archive.org/web/20160325210800/http://www.horch-und-guck.info/hug/archiv/2000-2003/sonderheft-1/inh/ 

Freya Klier legte 2011 mit einem Porträt des Jenaer Widerstands und Matthias Domaschks nach. 

https://www.magtec.de/files/magtec/inhalte/pdfs/klier_freya_matthias_domaschk.pdf 

 

Dennoch, Peter Wensierskis Recherchebuch ist sozusagen ein „Anti-Relotius“ und kommt der Wahrheit über das Leben in Jena und darüber hinaus in der DDR sehr nahe. Dem Autor ist es gelungen, die konträren Lebenswelten von Jugendopposition und Parallelgesellschaft Stasi nachvollziehbar darzustellen. Vor allem wird deutlich, welchen Repressionen Jugendliche in der kommunistischen Diktatur ausgesetzt waren. Erzählt wird in einem atemberaubenden romanhaften Stil. Unweigerlich fällt einem eine „Fehlfarben“-Liedzeile ein: „Keine Atempause. Geschichte wird gemacht. Es geht voran!“

 

Es gibt aber Ungenauigkeiten. Matz und Blase waren jedenfalls 1973 nicht bei der Jazz Jamboree. Dafür waren einige andere Jenaer von den Verhaftungen und Ausweisungen im Oktober 1973 in Warschau betroffen. Im Buch steht das anders - als Aufhänger und Gerücht, um ganz kurz auch auf die dortige Polizeigewalt eingehen zu können - was so weit wiederum auch okay ist.

Die Übergriffe der kommunistischen Miliz hätten sich hingegen dennoch schildern lassen, ohne dass nun Blase und Matz wahrheitswidrig gleich als Jazzkonzertgänger hätten dargestellt werden müssen, denn es wurde damals ja davon rumerzählt - und somit haben auch beide von den Festnahmen und der Gewalt erfahren, spätestens durch das unter der Hand verbreitete Buch „ddr konkret“ der Exil-Jenenser, in dem Wolfgang Hinkeldey davon berichtet. (Vgl. Gerold Hildebrand – Jazz und Opposition: 

https://www.geschichtswerkstatt-jena.de/images/stories/GW-pdf/GG18_H104_Leseprobe5.pdf).

Peter Wensierski hat in einem Kalender von Matz von 1979 die Termin-Eintragung „Jazz Jamboree“ gefunden. Mag sein, dass Matz zu dieser Zeit dort hin wollte. 1973 aber waren fünf andere Jenaer dabei, Matz und Blase nicht. Blases Musik war das nun auch gar nicht. Kinkerlitz.

 

Gleich am Buchanfang stolperte der Rezensent über den Satz, am Freitag, 10. April 1981 habe Matthias Domaschk nach der Arbeit „immer zwei Treppenstufen auf einmal“ genommen, um in seine Wohnung Am Rähmen 3 in Jena zu gelangen. Ganz so, als habe der Buchautor auf einer der Treppenstufen gehockt und zugesehen.

Matthias war am Vorabend zu einer Tanzveranstaltung im KZ genannten Kulturzentrum Jena-Neulobeda, wie Zeitzeugen berichteten, und sicherlich eher übermüdet. Nicht ganz unwesentlich für den Weitergang, die Stasi wusste Bescheid. Der fehlende Schlaf wird noch eine wesentliche Rolle spielen.

 

Matz und sein mit ihm gemeinsam festgenommener Freund „Blase“, der 2017 verstorbene Peter Rösch, mussten im „Gewahrsam“ warten, warten und nochmals warten - und wussten nicht, worauf es hinauslaufen sollte. Das zermürbt. Die überlange Festnahmezeit war selbst nach DDR-Gesetz nicht zulässig, das eine „Gewahrsamsnahme“ auf 24 Stunden limitierte, zumal beide eine Straftat weder begangen noch vorbereitet hatten. Sie wollten einfach nur zu einer Geburtstagsfeier nach Ostberlin. Doch dort tobte gerade der X. Parteitag der SED. „Kampfkurs X“ hieß die Stasi-Parole für die zu schaffende absolute Störungsfreiheit an diesem Wochenende vor Ostern in Ostberlin.

 

Auch Hauptmann Köhler wartete. Er und die anderen Stasi-Aktivisten hatten allerdings ein konkretes Ziel vor den Augen: Weichkochen, Verunsichern, Geständnisproduktion, dann Anwerbung!

 

 

Die Denke der Stasisten war ziemlich simpel: Wenn wir einen „umdrehen“,  haben wir einen Feind weniger, haben ihn zumindest unter unserer Kontrolle. Wenn es gut für uns läuft, bekommen wir auch noch Informationen über andere Feinde. Sie hatten in diesem Fall die Rechnung nur ohne den Wirt gemacht. Der „Wirt“ zeigte ihnen eine lange Zunge und funktionierte nicht. Tragischerweise dachte er in einer verzweifelten Kurzschlussreaktion unter völlig hoffnungslosen Bedingungen, er müsse sein Bestes geben, um aus der Nummer rauszukommen: Sein Leben. So könnte man es sehen. Im Buch geht das etwas unter.

 

Wensierski stellt - nicht ganz unplausibel - heraus: Die Vorhaltungen terroristischer Ambitionen mündeten unter Androhung einer hohen Knaststrafe in eine unterschriebene Verpflichtungserklärung.

Bestimmt war auch den Stasi-Schergen klar, dass im Bekanntenkreis von Matthias Domaschk geäußerte Gewaltphantasien nur Spinnereien waren. Aber man konnte ihn unter Druck setzen damit. Stärker, als wenn bei der Hausdurchsuchung nur ein paar Biermann-Texte oder gar eine Druckmaschine gefunden worden wären.

 

Was aber nun genau ablief bei der erzwungenen Anwerbung durch Horst Henno Köhler, bleibt weiterhin im Verborgenen. An dieser Stelle keine ausschmückende Detailverliebtheit wie sonst ab und an im Buch. Es bleiben Fragen offen.

Hatte der Stasi-Stratege ein Angebot gemacht, Domaschk dürfe seine Tochter im Westen besuchen und nachdem die Unterschrift im Kasten war, höhnisch gelacht? Aber wäre Matthias Domaschk so naiv gewesen, solch ein Angebot für bare Münze zu nehmen?

Vorstellbar ist auch, dass Matz in seiner Übermüdung (man kommt bei längerem Schlafentzug bestimmt in völlig realitätsferne Zustände), unterschrieben hat, um rauszukommen. Und dann hat Köhler vielleicht noch eins draufgesetzt und gegrinst: „Na, jetzt kommst Du auf den richtigen Weg!“ und Matz hat sich das Du bestimmt verbeten und was gesagt in der Art: „Das werde ich selber entscheiden!“ und Köhler dann: „Okay, ich zerreiße das wieder, aber vorher zeigen wir das noch zufällig deinem Kumpel Blase in der Nachbarzelle, wir brauchen deine Verpflichtungserklärung da nur zufällig auf dem Tisch vergessen. Der liest das bestimmt. So und nun ab zum Transport. Wirste schon sehen, wer dich noch kennen will, wenn du wieder in Jena bist.“

Es bleibt Spekulation. Peter Wensierski bleibt hier ganz unspekulativ. Aber der letzte Stasi-Mann, der ihn in der Mangel hatte, trägt eine ganz besondere Verantwortung für den Tod von Matthias Domaschk.

 

Köhler schweigt und ist noch immer ein 150%iger, wie die fanatischsten SED-Genossen in der DDR genannt wurden. Mehr hat Autor Wensierski von ihm selbst nicht erfahren, dennoch aber seine Stasi-Karriere rekonstruiert.

 

Interessant ist die geheimpolizeiliche Laufbahn des Trusetalers, die mit dessen irren Denunziationen schon als Schüler begann. Er folgte stets der KPD-Tradition, die eine familiäre Vorbelastung des jungen Köhlers ist. Rasch wurde er Hauptamtlicher und kletterte auf die Karriereleiter. Manchem Einsatzplan war er nicht gewachsen, wollte aber immer glänzen. So einer begegnete nun also Matz in dessen letzter Lebensstunde.

Andere haben es zu Gazprominenz gebracht.

 

Ganz hinten im Buch erfährt der Leser, dass es den meisten ehemaligen Stasi-Offizieren recht gut geht im „kapitalistischen Feindesland“. Nur einer von dreißig, der Vernehmer Peißker, zeigt nun Reue.

 

Hier hat der Autor tatsächlich Neuland betreten, indem er als emotional weniger Vorbelasteter das Gespräch mit den Tätern suchte, die sich freilich die Verstellung bereits in ihrer Ausbildung angeeignet haben.

 

Befremdend ist jedoch das aufscheinende unterschwellige Lob des Linksradikalismus, der im Buch großen Raum einnimmt. Kommt hier die Westsozialisation des Autors zum Tragen?

 

Bestimmt kannte Matz jemanden, der jemand kannte, der jemand kannte, der Terrorismus-Phantasien hegte. Vielleicht ist er bei Bekannten in Weimar, deren Wohnung abgehört wurde, gar einem solchen begegnet. Die Stasi konstruierte daraus eine Art Kontaktschuld und unterstellte ihm, ebenfalls solchen Ambitionen zu folgen. Im Buch zählt der Anfang der 80er Jahre in der DDR akkreditierte West-Journalist Wensierski aus Stasi-Akten entnommene vermeintliche Fälle aus Weimar, Arnstadt, Leipzig und Halle auf und suggeriert, dass es auch im Osten ausgereifte Pläne zur gewaltsamen Revolte gegeben habe. Ist er hier der Sicht von Stasi-Offizieren und ihren Inoffiziellen Mitarbeitern zu sehr auf den Leim gegangen? Hat er an dieser Stelle zu zwanghaft „beweisen“ wollen, dass es umstürzlerische Terroristen nicht nur in der Bundesrepublik sondern auch in der DDR gegeben habe? Kommt er in den Zeiten etwas durcheinander, wenn in Arnstadt erst nach dem Tod von Matz spinnerte und leider Stasi-abgehörte Gewaltphantasien geäußert wurden?

 

Solcherlei konspirative linksextreme Militanz war der unzweifelhaft vielstimmigen DDR-Oppositionsszene unterm Strich fremd, auch wenn sich manche als undogmatisch links positionierten. Es ging um das Benennen von Unrecht. Waffe war das Wort: Der Anschlag von Flugschriften und nicht der Anschlag auf Menschen. In der Opposition wurde neben allen anderen „Auswüchsen kapitalistischer Dekadenz“ zwar auch Underground-Music gehört. Obergrund des Handelns war die Entlarvung der Diktatur, politischer Adressat war letztlich immer die Öffentlichkeit. Einen konspirativen „Untergrund“ gab es nach den 50er Jahren kaum noch, auch wenn die konspirierende Stasi weiterhin von „politischer Untergrundtätigkeit (PUT)“ faselte.

 

Den Aufbegehrenden ging es um politische Partizipation und Pluralismus. Geradezu überdeutlich wird das 1989, als nur in Dresden an einem Tag im Oktober angesichts massiv unangemessener Volkspolizeigewalt ein paar Pflastersteine flogen. Agents Provocateurs standen auch in Mielkes Diensten. Durchaus besteht Forschungsbedarf über Linksradikale und Linksextreme sowie andere politische Gewalttäter in der DDR, wirklich gewaltförmiges Handeln aber wird in den letzten zwei Jahrzehnten vor dem Mauerdurchbruch wohl kaum zu finden sein.

http://h-und-g.info/forum/default-title/linksextremismus-und-sed-staat#_ftn2

 

Bisher existieren Veröffentlichungen über in der DDR untergetauchte RAF-Terroristen und von Tobias Wunschik über die KPD/ML-Sektion DDR, die in Wensierskis Buch deutlich überdimensioniert zum Tragen kommt. Relevanz und Vorbildcharakter für Matthias Domaschk hatte die aus einer Handvoll Maoisten bestehende Polit-Sekte keineswegs. Nicht einmal die Stasi wirft ihm das vor, wie das Verhörprotokoll zeigt. Und kaum jemand wird bislang überhaupt etwas von der Existenz dieser kleinen stasidurchsetzten Gruppe, die Marx, Lenin, Stalin, Mao und Enver Hoxha nacheiferte, erfahren haben. In Wensierskis Darstellung entsteht so eine gewisse Unwucht.

https://www.stasi-mediathek.de/medien/sachstandsbericht-ov-stachel-gegen-die-kpdml-sektion-ddr/blatt/185/

 

Selbst DDR-Akteure der KPD/ML riefen nicht zum gewaltsamen Aufstand auf, sondern benannten in ihren Flugschriften durchaus existierende Probleme in der größten DDR aller Zeiten.

https://www.mao-projekt.de/INT/EU/DDR/DDR_KPDML_Flugblaetter.shtml

 

Eine regelrechte Forschungslücke besteht aber bezüglich des Wirkens von Volkspolizei, Transportpolizei und den vielen anderen Helferlein der SED-Diktatur. Das hinwiederum führt Wensierskis Buch klar vor Augen.

Die bleierne Zeit war nun mal einfach die Breshnew-Honecker-Ära.

 

Sicherlich gab es Parallelen zwischen West- und Ost-68ern, nicht zuletzt, was den Konflikt mit der diktaturversehrten Elterngeneration anging. Mit dem gewichtigen Unterschied, dass in der Bundesrepublik damals fast nur auf Paris geschaut wurde, im SED-Staat hingegen vor allem auf Prag - aber auch auf Paris. Auch im Osten trug man Westen und hörte Westradio, wenn man nicht gerade mit tälerner Ahnungslosigkeit gestraft war. 

 

Der Umgang mit Aufsässigkeit war halt grundsätzlich repressiver im Russengebiet, allein schon von den Rahmenbedingungen des politischen Systems her. Das wird im Buch zuweilen verwischt.

 

Wie gesagt, Waffe der DDR-Opposition war das Wort, auch wenn im Frühjahr 1980 Göttinger-Mescalero-artige „klammheimliche Freude“ nach der Panzersprengung des Widerständlers Josef Kneifel in Karl-Chemnitz aufgekommen sein mag. Dabei war schließlich kein Mensch zu Schaden gekommen.

Militanz war eben nicht der Weg der Opposition gegen die SED-Herrschaft, wie ja hinlänglich der weitere Gang der Geschichte beweist.

 

Der Rezensent hatte Matthias Domaschk etwa im Frühjahr 1976 in Ostberlin bei Michael Stokelbusch kennengelernt und war sofort begeistert von dem zwei Jahre jüngeren belesenen und aufgeweckten Jenaer, der vor Lebenslust nur so strotzte und von der aufmüpfigen und kreativen Jugendszene in Jena kündete - ein Grund dafür, warum er im Oktober 1976 nach Jena zog. Einfach war ein Zuzug nach Jena nicht. Er fand zunächst Aufnahme in der dortigen „Kommune 1“ (das abbruchreife Hinterhaus Maxim-Gorki-Straße 1 mit dem tschechischen Fähnchen am Fenster) und es blieb ihm nichts anderes übrig, als später eine Wohnung zu besetzen in der Wagnergasse 27. Selbstredend hat er diese Entscheidungen nie bereut. Eine Insel sympathischer Offenheit und Gemeinschaft in einem Land, das die „Solidarität der unteren“ fürchtete und Vertrauen stetig zu untergraben suchte.

 

Doch der letzte relativ unbeschwerte Jenaer Sommer 1976 war schnell vorbei. Verbotene Bücher von Wolfgang Leonhard und Orwell machten die Runde und weiteten den Blick.  Noch fanden in wechselnden Wohnungen Lesekreise statt, die erst 1978 mit dem Bahro-Lesekreis wieder aufgegriffen wurden. Denn Mitte November 1976 hagelte es nach der Solidarisierung mit Wolf Biermann Inhaftierungen, die in Abschiebungen und Ausbürgerungen mündeten.

 

Vorausgegangen war am 18. Januar 1975 ein brutaler volkspolizeilicher Überfall auf eine Verlobungsfete in der Gartenstraße 7. Solcherlei war keinesfalls unüblich im wunderschönsten Sozialismus, doch die Jenaer nahmen das nicht hin. Es folgte eine Sinuskurve von Protesten (Eingaben), Inhaftierungen, solidarischer Unterstützung und erstrittener Freilassung, bei der Reiner Kunze eine wichtige Rolle spielte, dessen Tochter Maik in Jenas „Kommune 1“ lebte. Auch das alles ist im Buch erstmals ausführlicher geschildert und Wensierski hebt hervor, wie schwer diese Eingriffe, die durch Inhaftierungen und Wegtreibungen zu einer stetigen Ausdünnung des Freundeskreises führten, Matthias Domaschk auf der Seele lasteten.

 

Ein Urteil der kommunistischen Staatsverweser über die von ihnen als Underground betrachtete Jugendkulturszene lautete in dieser Zeit: „Dieser Personenkreis tritt vorwiegend als Diskussionsklub in Erscheinung, entwickelt eigene Vorstellungen zum Begriff ›Freiheit‹ und versucht, dieselben zu verwirklichen.“ 

 

Das wollten die marxistisch-leninistischen Genossen nun mit allen Mitteln verhindern. Vor diesem Freiheitsstreben hatten sie panische Angst, zumal mit Matthias Domaschk hier einer in ihre Klauen geraten war, der Kontakt pflegte nicht nur zu den westwärts vertriebenen Freunden, sondern ebenfalls zur osteuropäischen Freiheitsbewegung in Danzig und Prag. Dies ist der eigentliche Grund dafür, dass sie in ihm einen bedrohlichen Unsicherheitsfaktor sahen, den es tschekistisch zu „liquidieren“ galt.

 

Das Eintreten für Freiheit und Selbstbestimmung und deren gewaltförmige Unterdrückung sind der Kern des Buches. Das hat gar nun nicht nur mit der doppelten deutschen Diktatur-Geschichte zu tun, sondern ist leider sehr gegenwärtig die anhaltende Situation von Oppositionellen und Dissidenten in Russland, Belarus, China, Iran, Kuba, Nicaragua und so weiter.

 

Für Westler wird das Verständnis für die Brüder und Schwestern aus der Ostzone vertieft, im Osten könnte es auch dem intergenerationellen Gespräch dienen.

Nachwachsende Generationen werden hier fündig bei der Frage, wie eine Diktatur so lange funktionieren konnte. Geeignet für Kinder ab 18 Jahren.

 

Aufmerksamkeit erzielte das im Christoph-Links-Verlag erschienene Buch bereits im MDR, im Spiegel, im Deutschlandfunk, in FAZ, OTZ, MAZ und Berliner Zeitung.

 

Drei Jahre harte Arbeit, weggelesen an drei Abenden, den flüssig und spannend geschriebenen Roman, der aber gar keiner ist. Spiegel-Bestseller, warum nicht?

 

https://www.boersenblatt.net/news/bestseller/erste-plaetze-fuer-martin-suter-und-laura-kneidl-280491

 

Die Tortur ist das fürchterlichste Ereignis, das ein Mensch in sich bewahren kann.

Wer der Folter erlag, kann nicht mehr heimisch werden in der Welt. “ JEAN AMÉRY