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Bellizismus

 

 

 

 

Annette Heinisch / Gunter Weißgerber


Belliszismus ist ein hübsches Wort. Es klingt fast wie Belletristik, hat jedoch nicht nur einen anderen Sinn, sondern auch deutlich geringeren Unterhaltungswert. Es geht um Kriegsverherrlichung, die beispielsweise Otto Schily (SPD) den Deutschen – welchen auch immer – vorwirft. Schließlich müsse man mit seinem Nachbarn leben, und so sehr er auch die russische Aggression verurteilt, so wenig hält er davon, sich dagegen zu wehren.

 

Wohlgemerkt, unstreitig und auch von Schily anerkannt, ist die Tatsache, dass es sich um eine objektiv völkerrechtswidrige Aggression handelt. Objektiv dürfte es auch so sein, dass dieser Vernichtungskrieg als (Versuch des) Völkermord(s) qualifiziert werden kann, denn die Ukraine wird von Russland als non – existent betrachtet, ergo soll alles Ukrainische zerstört werden. In derartigen Fällen sieht die internationale Rechtsordnung eigentlich die Pflicht (!) zum Eingreifen der Völkergemeinschaft vor. Das funktioniert nur deshalb nicht, weil Russland zusammen mit dem Busenfreund China dies verhindert. Die beiden hatten auch schärfere Sanktionen gegen Nordkorea verhindert, da haben sich zwei gesucht und gefunden. Aber sie sind nicht allein, Musterknaben wie der Iran oder Venezuela stehen fest an ihrer Seite. Und der eine oder andere Deutsche offenbar auch.

 

Ausgangspunkt ist der verbrecherische Einfall in einen anderen Staat, um ihn zu vernichten. Dazu sagt Schily: „Aber gleichzeitig muss klar sein, dass man mit seinen Nachbarn leben muss, auch mit Russland“, sagte Schily. „Beide Seiten haben Interessen, die berücksichtigt werden müssen.“ Russland werde immer ein Faktor bleiben, auch im Verhältnis zu Europa. „Wir müssen einen Weg finden, mit den Russen klarzukommen.“

 

“Wir“ müssen klarkommen? Wer ist „wir“? Wer sieht sich Bomben und Raketenbeschuss gegenüber, wo sterben unschuldige Menschen, die nichts weiter als in Frieden leben wollten?

 

Und „beide Seiten haben Interessen, die berücksichtigt werden müssen?“ Klar, ein Vergewaltiger hat auch Interessen, ein Mörder auch. Die vergewaltigen und morden nicht ohne Motiv. Nur seltsamer Weise duldet die Rechtsordnung nicht, dass diese Interessen mit Gewalt durchgesetzt werden. Das heißt: In den letzten Dekaden wurde das Einnehmen der Täterperspektive zunehmend zeitgeistig. Man müsse Verständnis mit dem Täter haben, das Opfer und sein Leiden werden verdrängt. Dies beruht auf derselben Einstellung, die nun die Interessen des Täters sieht und nicht völlig klar eine Grenze bei Gewalt zieht.

 

Besonders bemerkenswert ist es, wenn Juristen dies äußern. Im Strafrecht (und wir sprechen hier durchaus über strafrechtlich relevantes Verhalten) gibt es die Spezial – und die Generalprävention. Danach hat die Strafe den Sinn, diesen Täter von weiteren ähnlichen Taten abzuschrecken (Spezialprävention) und die Schärfe und Durchsetzungskraft des Rechtsstaatsstaats soll auch andere, möglicherweise Übelwollende von ihrem Vorhaben abhalten (Generalprävention).

Dies zusammen mit der hohen Wahrscheinlichkeit, erwischt zu werden, sorgt für weitgehend gewaltfreie Zustände. Man nennt es auch „Frieden“. Jemand, der keine Angst hat, erwischt zu werden und eine schmerzhafte Strafe zu bekommen, hat naturgemäß eine sehr niedrige Hemmschwelle zu tun, was ihm beliebt.

Für Otto Schily rangieren demnach die Überlebensinteressen der Überfallenen nicht über den Eroberungsinteressen des Invasoren.  Stand Schily früher bei denen, die anderen „lieber rot als tot“ an den sozialistischen Hals wünschten und gleichzeitig selbst im freien Westen die Demokratie ihrem Streßtest unterzogen, so steht er heute immer noch dort, wo die eigene Freiheit wichtiger als die Freiheit anderer ist. In den 80ern lief es aber genau anders ab. Der NATO-Doppelbeschluß, gegen den die auch sowjetisch gesteuerte Friedensbewegung massiv zu Felde zog, brachte dem Ostblock die Freiheit. In diesem Sinne erhält unsere Unterstützung der Ukraine auch unsere Freiheit. Wir helfen der Ukraine um unser selbst willen.

 

In Deutschland ist es üblich geworden, Gewalttätern mit Verständnis zu begegnen. Hausbesetzer und Randalierer haben angeblich legitime Interessen, Mörder hatten eine schwere Kindheit, manche Migranten leiden unter kulturellen Missverständnissen, die ihnen z. B. unmöglich machen zu erkennen, dass eine Frau nicht vergewaltigt werden  möchte oder Ähnliches. Dieses Verhaltensmuster ist altbekannt und es hat zu genau der Situation geführt, in der wir uns heute befinden.

Wer Unrecht weicht, gibt ihm Raum. Damit wird nicht Frieden geschaffen, sondern Unterwerfung unter das Diktat der Gewalt.

 

Die Ukraine hat niemanden angegriffen, sie hätte es auch nicht. Das behauptet nicht einmal Russland, es wäre auch schlicht verrückt. Daher gibt es keine legitimen Interessen Russlands, Krieg zu führen.

Wenn wir mit Russland in Frieden leben wollen, dann ist die einzig notwendige Voraussetzung dafür, dass absolut und zweifelsfrei klar ist, dass Übergriffe – selbst kleine – nicht geduldet werden. Denn wenn das nicht außerhalb jeden Zweifels steht, werden wir nicht Frieden, sondern immerwährenden Krieg erleben. Genau das haben die Friedensapostel der Ukraine eingebracht, sie werden es auch uns – und diesmal wirklich uns – einbringen, wenn wir uns auf ihren Weg einlassen.

 

Besonders obskur ist der Vorschlag, die Ukraine möge zur zweiten Schweiz werden. Die Schweiz scheint ohnehin ein Sehnsuchtsort vieler Deutscher zu sein. Für diesen Vorschlag gibt es zwei Argumentationslinien: Erstens die multiethnische Bevölkerung und zweitens die Neutralität.

Zum ersten Punkt ist zu bemerken, dass es bereits weitgehende Freiheiten der Oblaste gab und dieser Aspekt nunmehr kaum noch eine Rolle spielt. Wer so denkt, ist in der Vergangenheit verhaftet. Die überwältigende Mehrheit der Ukrainer ist heute ukrainisch. Und nur ukrainisch, nichts anderes. Das Problem ist also gelöst.

 

Was den zweiten Punkt angeht: Die Ukraine hat keine Alpen, die eine Eroberung erschweren und sie hat keine friedlichen Nachbarn, welche die Neutralität akzeptieren. Machen wir uns nichts vor, wenn die Nachbarstaaten der Schweiz deren Neutralität nicht mehr anerkennen, wäre es damit vorbei, trotz der Alpen. Wenn Russland ihr Nachbar wäre und ihre Eigenständigkeit negieren würde, hätte sie keine Chance.

 

Das sind Träume und genau diese Art Traumtänzerei bezahlen momentan ukrainische Kinder mit ihrem Leben.