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Her mit dem Mehrheitswahlrecht!

Roman Herzog forderte zweimal einen Ruck in und für Deutschland. Bekannt ist allerdings nur noch seine Forderung von 1997. Mit seiner Ruck-Rede wird der jüngst verstorbene frühere Bundespräsident wahrscheinlich noch sehr lange im kollektiven Gedächtnis der Deutschen bleiben. Er forderte Mumm von der politischen Klasse. Mumm zum Aufbruch und den Abbruch der Verwaltung des Durchwurstelns. 
Im Gedächtnis wird diese Rede auch bleiben, weil es einen Politiker gab, der machtvoll reagierte: Sechs Jahre später zog Gerhard Schröder die Reißleine und beendete den Stillstand. Seine AGENDA 2010 brachte die SPD zwar um die Regierungsmacht, die Bundesrepublik jedoch in ihre stärkste Phase seit Jahrzehnten. Schröder schuf ohne das zu ahnen das wirtschaftliche Fundament späterer Merkelscher Stärke und Merkelschen Übermuts.



Völlig untergegangen ist Roman Herzogs zweite Ruck-Forderung vom März 2008 nach Änderung des Wahlrechts. Das wundert mich nicht. Auch nicht, dass in diesem Fall niemand nachzog. 

Jetzt haben wir den Salat.  Niemand weiß, wie die kommende Bundestagswahl ausgehen wird und wie sich diese Bundesrepublik in der Folge verändern oder stabilisieren wird. 
Lautete das Stichwort Anfang des neuen Jahrtausends noch „Stillstand“, das jeder Bürger und jede Bürgerin sofort verstand, so ist es momentan das Gefühl, Wahlen kommen und gehen, die (demokratisch legitimierten) Bestimmer bleiben trotzdem immer die Gleichen.

Das liegt im Verhältniswahlrecht begründet. Nun gibt es durchaus trifftige Argumente für ein solches Wahlrecht. 
Mein Freund Stephan Hilsberg, Gründungsmitglied der Sozialdemokratischen Partei der DDR, schrieb mir zum Thema:



„Das Verhältniswahlrecht macht  die Abgeordneten etwas unabhängiger von ihrer Partei. Und das ist schon ganz gut... Alles, was check and balances fördert, was zu einer gut ausbalancierten Gewaltenteilung führt, fördert die politische Stabilität. Also das, was das Volk hasst, nämlich der dauernde Streit, das sich gegenseitige Blockieren trägt in Wirklichkeit zur Stabilität, zur Sicherung des Rechtsstaates, zum inneren Frieden bei...Machiavelli führte die Stabilität des römischen Weltreiches auf die Machtteilung zurück, zwischen Kaiser und Senat. Das machte die Menschen nicht besser, als sie sind. Aber es setzte der Dummheit der einen, die Dummheit der anderen als Grenze. Die Vernunft mag es schwer haben unter diesen Bedingungen, und damit vielleicht auch der Fortschritt. Aber zumindest hat es auch der Rückschritt schwer, und Fehler werden vermieden. In einem solchen System liegt viel Weisheit.“

Im Deutschland des Jahres 2017 sind allerdings Lethargie, Abstinenz, auch Ablehnung die Folgen – ein unangenehmer Mischmasch. Deutschland steht inmitten schwieriger Zeiten.

 Ich möchte keine andere Bundesrepublik, im Gegenteil. Für diese Bundesrepublik inmitten Europas als Mitglied von EU und NATO bin ich auf die Straße gegangen. Doch möchte ich frischen Wind und konkretere Verantwortung, ohne das Kind mit dem Bade auszuschütten.

Unterm Mehheitswahlrecht werden Parteien realistischer


Deutschland braucht einen Ruck im Wechselspiel zwischen Wahlvolk und Gewählten. Einen Ruck, der nichts an den Grundsäulen unserer Demokratie verändert, diese jedoch direkter und abrechenbarer macht: Wir brauchen das Mehrheitswahlrecht  (und werden es wohl nie bekommen. ich weiß).

 Eine Mehrheitswahl ist ein Repräsentationsprinzip mit dem Ziel, eine parlamentarische Regierungsmehrheit für eine Partei herbeizuführen. Es bezeichnet ein Verfahren zur Auswahl eines Vorschlages aus einer Reihe vorgegebener Alternativen durch die Mehrheit einer Gruppe von Wählern. Somit zeichnet sie sich als ein Verfahren zur direkten Wahl von Repräsentanten aus. So wie in verschiedener Ausprägung in Frankreich, Großbritannien und den USA.

Ich gebe zu: Auch ich kam von meinen fünf vollen Bundestagsmitgliedschaften die beiden ersten Male über die Zweitstimme in den Bundestag, profitierte also scheinbar vom Verhältniswahlrecht. Aber es trifft nicht zu, dass ich unter den Bedingungen eines Mehrheitswahlrechts nicht in den Bundestag eingerückt wäre. Weil nämlich niemand sagen kann, ob eine realistischere SPD unter den Bedingungen eines Mehrheitswahlrecht 1989/90 so versagt hätte, wie sie es unter dem Verhältniswahlrecht tat. Ich behaupte, die SPD wäre 1990 keine postindustriell abgehobene Partei gewesen, hätte Politik so gemacht, wie es die Wahlkreisgewinner wollten und nicht so von über Listen abgesicherten Ideologen.

„Hätte hätte Fahrradkette“. Wer direkt gewählt werden will, benötigt die relative Mehrheit alle Wähler im Wahlkreis. Über die Köpfe der Leute hinweg schwadronieren hilft ihm oder ihr überhaupt nichts, weil es keinen sicheren Listenplatz gibt. Im Gegenteil: Der mögliche Erfolg ist nur in Übereinstimmung mit möglichst vielen Wählerköpfen zu erreichen. 
Unter dem Zwang, die Übereinstimmung mit möglichst vielen Wählerinnen und Wählern zu suchen, werden sich in allen Parteien eher realitätsbezogene Typen durchsetzen. Das Angebot der Parteien wird realistischer und bleibt näher am Souverän – Quoten haben keine Chance.

Auch wäre die Einführung des Mehrheitswahlrecht ein tatsächlicher Schritt zu direkterer Demokratie. Gleichzeitig gäbe es die Diskussionen um den von Wahl zu Wahl ins bombastisch wachsenden Bundestag nicht mehr. Die Zahl der Bundestagsabgeordneten wäre tatsächlich begrenzt und würde nur Änderungen folgen, die die Zahl der Wahlkreise beträfe: Aktuell haben wir 299 Wahlkreise, aktuell würden demzufolge 299 Bundestagsabgeordnete gewählt und zwar schön direkt!

Der Bevölkerung vorschreiben, welches Geschlecht in welchem Wahlkreis zu wählen ist, ist von vornherein lächerlich und in der Praxis undurchführbar. 
Prominenz schützt vor dem Praxistest nicht, das heißt prominent bleibt über mehrere Legislaturperioden nur, wer sich jedes einzelne Mal direkt im eigenen Wahlkreis durchsetzt, also nicht in höhere Gefilde davonzieht, so dass er oder sie die Bodenhaftung verliert.
 Fraktionsvorsitzender, Fraktionsvorstand vermag nur zu bleiben, wer direkt wiedergewählt wird. 


Auch große Namen müssen sich jedesmal neu bewähren

Das gegenwärtig praktizierte Prinzip „Bei Akzeptanzverlust für die Partei verkürzt sich nur die jeweilige Landesliste und die Fußsoldaten müssen dran glauben“, geht sofort in die ewigen Jagdgründe ein. Die Großkopferten bleiben nicht mehr gesichert, während die nicht ganz linientreuen Mitkämpfer bleiben dürfen, wo der Pfeffer wächst. Diese Art von Parteibereinigung zugunsten der ideologischen Linie entfällt fürderhin. Die Verantwortung für Politik würde direkter.


Koalitionsregierungen sind so gut wie ausgeschlossen. Das bedeutet, die Wahlprogramme sind abrechenbar. Bislang gilt: Wir versprechen etwas, was wir im Falle eines 51prozentigen Wahlsieges durchführen würden, wissen aber ganz genau, wir werden mit künftigen Koalitionspartnern auf viele unserer Ziele verzichten und Ziele der anderen auch zu unseren Zielen machen müssen. Abrechenbarkeit nach Legislaturen sieht anders aus.
 Die Regierungspolitik müsste sich am im Wahlkampf Versprochenen ausrichten. Ausreden fallen schwerer: Wahlprogramm gleich Regierungsprogramm.

Aber leider, leider: Daraus wird nichts. Wetten?

 Zur Änderung des Wahlrechts bedarf es Mehrheiten in Bundestag und Bundesrat. Daran sind mit Schmidt und Barzel zwei sehr starke Persönlichkeiten bereits 1967/68 gescheitert. Weil die FDP verloren gegangen wäre und beide Parteien die FDP dringend brauchten. 
So wie heute CDU und SPD meinen, sie bräuchten FDP, Grüne oder Linksaußen. FDP, Grüne, Linksaußen, auch genauso die AfD, sie alle würden ihrerseits gegen das Mehrheitswahlrecht Sturm laufen. Soviel direkte Demokratie soll es denn dann doch nicht sein. Darüber schwadronieren: ja. Es machen: Nöh, nich‘ mit uns!

Kleine Parteien werden bei so einer Wahlrechtsreform nicht mitmachen, denn Direktwahlsiege würden für deren Kandidaten die große Ausnahme. Kleine Parteien kommen dann in Parlamenten nicht mehr oft vor. 
In den großen Fraktionen wird es aber ebenfalls keine Mehrheit geben, da das Mehrheitswahlrecht wohl mit dem sicheren Mandatsverlust vieler Bundestagsabgeordneter verbunden wäre. Mit Überhangmandaten ist die Zahl der direkt gewählten Bundestagsabgeordneten geringer als die der über Landeslisten gewählten. Die direkt Gewählten kommen nie auf über 50 Prozent in Abstimmungen zur dieser revolutionären Wahlrechtsänderung.




Helmut Schmidt meinte:

„Ich habe immer gewusst, dass das Verhältniswahlrecht in aller Regel dazu führt, dass eine größere Zahl von Parteien ins Parlament einzieht. Es zwingt zur Koalitionsbildung und damit zu Kompromissen, und zum Teil sind diese Kompromisse in der Sache nicht förderlich. Deshalb habe ich vor einem halben Jahrhundert, zur Zeit der ersten Großen Koalition, gemeinsam mit Herbert Wehner und den CDU-Kollegen Rainer Barzel und Paul Lücke dafür plädiert, ein Mehrheitswahlrecht nach angelsächsischem Vorbild einzuführen. Wir sind mit diesem Vorschlag gescheitert, die Fraktionen von CDU/CSU und SPD haben ihn abgelehnt.“ (Helmut Schmidt am 28.07.2011 in der Zeit).