 
    
Der Sommer 1990 gehört zu den überaus glücklichen Momenten deutscher Geschichte, die erstmals im Einklang mit den Interessen und der Zustimmung ihrer Nachbarn ablief. Beide deutsche Regierungen ließen keinen Zweifel an ihrem Willen aufkommen, ihre Nachbarn und die Siegermächte des Zweiten Weltkrieges intensiv mit einzubeziehen.
Helmut Kohl erreichte im Kaukasus Gorbatschows Einverständnis zur Deutschen Einheit im Rahmen von EU und NATO .
Die Verträge zur Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion, zur Einheit (Einigungsvertrag), zur kommenden Bundestagswahl (Wahlvertrag) sowie zur abschließenden Regelung in Bezug auf Deutschland (Zwei-plus-Vier-Vertrag) wurden in einem unerhörtem Pensum ins Werk gesetzt und die Parteien konnten sich im Herbst 1990 auf die erste gemeinsame Bundestagswahl konzentrieren, die auf der Grundlage des Wahlvertrages August 1990 auf den 2. Dezember 1990 festgelegt wurde.
Da die Grünen und PDS mit ihren Klagen gegen die für Deutschland in Gänze festgelegte 5-Prozent-Klausel vom Bundesverfassungsgericht Recht bekamen, wurde in den zwei Wahlgebieten Bundesrepublik-alt und Bundesrepublik-neu mit eigenen 5-Prozent-Klauseln getrennt gewählt. Infolgedessen erreichte die PDS am 2.12. 1990 den Bundestag und Die Grünen/West schauten bis 1994 von außen zu und wurden allein vom Bündnis’90/Ost im Parlament vertreten.
Am 2. Dezember 1990 bekam die SPD mit 33,5 Prozent ihr seit 1957 schlechtestes Ergebnis überhaupt. Das Wahlvolk erteilte die Quittung für historisches Versagen und erteilte ihr den Auftrag der Opposition in der kommenden sehr wichtigen Phase des Zusammenwachsens in emotionaler und staatlicher Sicht. Regieren oder wenigstens Mitregieren der SPD wäre für Deutschland in den kommenden Jahren besser gewesen. Eigentumsfragen, Treuhand, SED-Unrechtsbereinigung, Stasiunterlagen u.v.m. standen auf der Tagesordnung und die SPD befand sich leider in der Oppositionsrolle. Suboptimal scheint hierfür ein passender Begriff zu sein.
Schade. Es wäre mehr möglich gewesen. Die Fehler der CDU/CS/FDP-Regierung gerade im Bereich von Treuhand und Eigentum düngten den Boden, auf dem sich die SED in den 90er des letzten Jahrhunderts revitalisieren konnte: Rückübertragung statt Entschädigung schuf vielfach neues Unrecht und blockierte die wirtschaftliche Entwicklung enorm. Der Kali-Deal zwischen Treuhand, westdeutsch dominierten Gewerkschaften unter dem Gönnertum der Bundesregierung schuf den Mythos Bischofferode und war gleichzeitig die Frischzellenkur für die SED-Nachfolger.
    Zusammen mit der ständigen Medienpräsenz dieser Truppe, der wenig späteren Zusammenarbeit von SPD mit PDS kam es wie es kommen musste. In Thüringen fungierte
    die SPD 2014 sogar als Steigbügelhalter für einen Ministerpräsidenten der inzwischen als Linksaußen firmierenden SED.
    
    Gemach!
    Hier kommt erstmal meine Wahlauswertung vom Wahlabend des 2. Dezembers 1990, deren Kernaussagen ich in der ersten Fraktionssitzung nach der Wahl am 4. Dezember in die Diskussion erläuterte. Nach
    meiner Wortmeldung ging ich zu Willy Brandt und sagte ihm, dass er das schlimmste abgewendet hatte und dankte ihm für seine inzwischen öffentlich gewordene brachiale Kritik am Kanzlerkandidaten
    Lafontaine.
    
    Vorab die Notiz aus dem Fraktionsprotokoll.
    
 
    
 
    
    Die Auswertung:
 
                            Die SPD und die Zwangsläufigkeit ihrer Wahlniederlage
                                  
                               
    oder
                                       
    Die Blauäugigkeit der SPD
 
    Für mich als jenseits des "Eisernen Vorhanges" aufgewachsenen Deutschen "offenbarte" sich der Kurs der SPD nach 1982 als ein Kurs in die politische Minderheit. Ursache hierfür war m. E. eine
    schwerwiegende Verkennung der Realitäten in Europa bzw. in der Welt!
    
    Der 2. Dezember 1990 sollte Anlaß genug sein für ein selbstkritisches Umgehen mit dem politischen Lebenslauf unserer Partei!
    
    Auf der "Habenseite" sollte u. a. stehen:
    - allgemein zugesprochene Kompetenz in sozialen Fragen
    - ökologische Kompetenz wurde den GRÜNEN "abgenommen"
    - eine Million Sozialdemokraten
    
    Negativbilanz:
    - Verlust der wirtschaftlichen Kompetenz im Bewußtsein des Wahlvolkes
    - teilweise "Übernahme" des Klischees der "Politikunfähigkeit der GRÜNEN/Alternativen"
    - Einheit der Partei nach außen bleibt Wunsch, solange statt Integratoren Polarisierer[1] (beispielsweise) Kanzlerkandidaten
    sind.
                                                                                      
    Die Kommunisten scheiterten u. a. an der Tatsache, daß es den "Menschen an sich" für ihr System nicht gab bzw. geben wird. D. h. sie wollten diese Tatsache nicht wahrhaben! Nun zu den
    Sozialdemokraten. Diese wollten (oder wollen) nicht wahrhaben, daß die Realitäten sich vielfach von ihren Vorstellungen unterscheiden. Ich sage hierzu Blauäugigkeit oder auch standhafte Negation
    der Realitäten. Nachfolgend einige Beispiele zur Untermauerung meiner Behauptungen:
    Illusion 1:      Der Begriff der Nation gehört ins 19. Jahrhundert!"
    Realität 1:      Die angeblich nicht mehr existente Nation erzwang die Einigung
    Deutschlands
                und bestimmte vorrangig die Politik! Weder
    wollten die DDR-Deutschen mit
                Österreich noch mit Frankreich die staatliche
    Einheit. Auch wollten die
                Tschechoslowaken (ebenfalls befreit) sich trotz
    des Wohlstandsgefälles nicht mit
                einem ihrer Nachbarstaaten vereinen. Gerade die
    sträfliche Blindheit in
                tatsächlich vorhandenen nationalen Belangen zog
    eine herbe Wahlniederlage
                nach sich. Diese Überheblichkeit divergiert
    erheblich mit unserem Anspruch,
                Volkspartei zu sein. Außerdem steht die
    Einbettung in nationale Identitäten
                keineswegs in Widerspruch zum europäischen
    Gedanken. Im Gegenteil! Dies
                meinte übrigens auch der leider bereits scheinbar
    von Vielen vergessene Kurt
                Schumacher.
    
    Illusion 2:      "Der Arbeiter existiert nicht mehr!"
    Realität 2:      Selbstverständlich entspricht das Bild des Arbeitnehmers nicht mehr
    dem Stand
                des 19. Jahrhunderts. Aber deshalb hat er doch
    nicht aufgehört zu existieren. Und
                er ist imstande, seiner SPD derbe und heftige
    Ohrfeigen zu versetzen. So ist es
                nicht nur in Sachsen, nein, so ist es auch in
    Westdeutschland geschehen! Die SPD
                verliert momentan enorm innerhalb ihrer
    Stammklientel. Nicht zuletzt ihr hoher
                pseudointellektueller Personenanteil , der u. a.
    an der Sprache
                (Dialogunfähigkeit) erkennbar ist, bereitet dem
    Arbeiter Schwierigkeiten bei der
                Identifikation mit sozialdemokratischer Politik.
    Von der guten alten
                Politikertugend, dem Volke aufs Maul zu schauen,
    ist keine Spur geblieben.
    
    Illusion 3:      "Der neue Weg - ökologisch, sozial, wirtschaftlich
    stark"[2]
    Realität 3:      Wirtschaftlich stark und sozial/ökologisch! Wirtschaftliche
    Fragen
                stehen immer, aber vor allem in Umbruchzeiten
    als Hauptfragen in der politischen
                Landschaft. So gesehen ist unsere Reihenfolge zwar emotionell verständlich, sie ist
               aber gegen den Realismus des "Mannes auf der Strasse"
    gerichtet.[3]Eine weitere
                Anmerkung: "Der neue Weg" benötigte vierzig Jahre
    zu seiner Entstehung. Und
                trotzdem ist er in Westdeutschland noch schwer
    vermittelbar. Logischerweise ist
                er in dem irgendwo in den fünfziger Jahren
    steckengebliebenen Ostdeutschland
                (fast) überhaupt nicht vermittelbar. Wie alle
    Menschen benötigen auch die
                Ostdeutschen Karenzzeit. Die Negierung der
    angestauten Bedürfnisse der
                Ostdeutschen seitens der Sozialdemokratie,
    beispielsweise hinsichtlich deren
                Wunsch nach Mobilität, war närrisch! Vierzig
    Jahre bezahlten sie bereits M 1,50
                (wenn auch Ostmark) je Liter Kraftstoff. Fünfzehn
    (15) Jahre warteten sie
                durchschnittlich auf ihren
    Plastikbomber[4]". Und wir Sozialdemokraten
                erwarten im Fall unserer Wahl deren Bereitschaft,
    freiwillig noch mehr Geld für
                 ihren Wunsch nach freier Fahrt für freie Bürger zu bezahlen. Die Menschen
                brauchen Zeit. Und wir wollen die Augen davor
    verschließen, oder?
    
    Illusion 4:      Verlangen nach Vorrechnung der Kosten der Einheit wirkt seriös.
    Realität 4:      Die Forderung wurde als kleinlich abgetan, ihre ständige Wiederholung
    wirkte
                penetrant. In Anbetracht der Freude der weitaus
    meisten Deutschen über die
                Einheit zog diese Forderung gar ablehnende
    Reaktionen nach sich. Mehr noch es
                war das Gefühl bemerkbar, daß sich viele der
    neuen Bundesbürger trotz
                vollzogener Vereinigung wieder ausgeladen
    vorkamen! Die Aufforderung,
                bereitwillig Opfer zu bringen, hätte der
    Wirklichkeit entsprochen und wäre somit
                klüger gewesen.
     
    Illusion 5:  Die SPD braucht das Ideal des "Demokratischen Sozialismus", (als ob der Begriff
                      "Sozialdemokratie" nicht ausreichend Name und
    Programm wäre...).
    Realität 5: Die Menschen litten bzw. hatten von Ferne teil an einem System, welches zwar
                dem sozialdemokratischen Ideal entgegengesetzt
    war, das den Begriff des
                "Sozialismus" aber für sich beanspruchte. Daß der
    Begriff des "Sozialismus"
                derart auf Jahrzehnte, wahrscheinlich sogar für
    immer, diskreditiert worden ist,
                bleibt die Folge der verlogenen Besetzung dieses
    Begriffes durch die
                Bolschewisten. Auch in diesem Punkt nehmen
    Sozialdemokraten wiederum keine
                Rücksicht auf die ernstzunehmenden Gefühle des
    "gemeinen Mannes/der
                gemeinen Frau". Als ob nichts geschehen sei, als
    ob die Emotionen der Menschen
                keine Rolle für die SPD spielten, beharrt sie
    zänkisch auf ihrer heiligen Kuh dem
                "Demokratischen Sozialismus". Und dies, obwohl
    sie bereits schon einmal (50er
                Jahre bis Anfang der 70er Jahre) bei Besinnung
    auf den eigenen, inhaltlich
                bedeutsamen und aussagekräftigen im Parteinamen
    geführten Begriff
                "Sozialdemokratie" ausgekommen war und damit
    breiten Anklang im Volk hatte!
    
    Illusion 6:  Linksaußen ist weniger gefährlich als Rechtsaußen.
    Realität 6: Otto Wels sagte bereits auf dem Leipziger Parteitag im Jahre 1931:
                "Bolschewismus und Faschismus sind Brüder!". Den
    Nachweis dieser These hat
                für alle verständlich die Geschichte geführt!
    Während man (berechtigterweise) für
                Sühneleistungen an den NS-Opfern eintrat, ließ man die
    SED-Kommunisten
                halbwegs ungeschoren. Während man die Existenz
    des "Berlin Document
                Center[5]" akzeptierte, wollte man die
    "Erfassungsstelle Salzgitter[6]"
                liquidieren. Als ob die Verbrechen der
    Kommunisten, gerade auch gegenüber
                Sozialdemokraten, harmloser waren!? Nichts gegen
    den Denkansatz des
                "Gemeinsamen Papiers[7]". Warum aber wurden die
    Verpflichtungen aus
                diesem Dokument bei den Kommunisten nicht
    konsequent unter Androhung der
                Annullierung dieses Papiers eingeklagt? Unter
    Verleugnung unsere Erfahrungen
                mit den Kommunisten, nämlich daß diese niemals
    ihre Identität wirklich ändern
                werden, glaubte man ungeschoren aus diesen
    Kontakten hervorzukommen. Wer
                seine Identität änderte, das war nicht die SED,
    es war in Teilen die SPD. Allein
                die Tatsache der Existenz "anständiger
    Kommunisten" berechtigt nicht zu einer
                Verharmlosung des Kommunismus. Schließlich war
    auch nicht jedes NSDAP-
                Mitglied ein KZ-Aufseher. Trotzdem war und bleibt
    für uns das System der
                kleinen Nazis ein zutiefst unmenschliches. Und
    genau dies gilt ebenso für das
                System der kleinen Kommunisten. In dem hier
    beschriebenen Zusammenhang
                müßte die Forderung nach einem zweiten
    Nürnberg[8] (dieses Mal für die
                kommunistischen Diktatoren) Allgemeingut
    sein.
    
    Genug der weiteren Aufzählung von Illusionen und den dagegen stehenden Realitäten. Aber die folgenden Details möchte ich dennoch ansprechen:
    - Die Unklarheiten auf dem Weg zur deutschen Einheit.
    Bereits der weltfremde Diskurs, ob die Vereinigung über Art. 23 GG oder Art. 146 GG[9] erfolgen sollte, trieb uns die Wähler in
    Scharen davon. Da Art. 146 GG kein Rezept zur Erreichung der Einheit bietet, lediglich dem dann bereits (!) geeinten Volk die (berechtigte) Chance einer Volksabstimmung über eine Verfassung gibt,
    war unsere "Schlauheit" (Art. 146) eigentlich eine Torheit. Sie führte nicht zu mehr Hoffnung, dafür aber zu erhöhter Verunsicherung des in der Mehrzahl jedenfalls einheitswilligen Bürgers. Und
    so wählte er dann auch im März 1990! Nämlich den "sicheren Kandidaten" - die Allianz[10]. Warum wurde eigentlich diese Diskussion,
    noch dazu in der Partei Kurt Schumachers, geführt? Besteht Opposition tatsächlich nur in der konsequenten Äußerung der Regierung entgegenstehender Meinungen? Muß dies in einer Art geschehen, die
    weder Sinn noch Form erkennen läßt? In diesem Zusammenhang hoffe ich, daß die SPD nun nicht grundsätzlich gegen Steuererhöhungen ist, nur weil die Regierung diese plötzlich doch als richtig
    erkennen würde. Hier sollte uns der Triumph, recht behalten zu haben, ausreichen[11]!
    
    - Generationenwahl - die Jugend wählt wieder sozialdemokratisch?
    Hier beginnt die standhafte Realitätsverleugnung bereits wieder! Erstens ist keineswegs sicher, daß die heute Zwanzigjährigen in vier Jahren immer noch SPD wählen. Zweitens sind die heute
    Zwanzigjährigen auch in vier Jahren noch in der Minderheit. Drittens ist der Tausch von zehn Jugendlichen gegen 50 "Normalbürger" jedenfalls aus Sicht der Bildung regierungsfähiger Mehrheiten ein
    miserabler Handel. Will man sich aber in Richtung 20 Prozent entwickeln - dann sollte man allerdings so weitermachen... .
    
    - Das Berliner Wahlergebnis[12] ist als klare Absage an das Tändeln der SPD
    mit dem linken Rand der Gesellschaft zu verstehen.
    
    - Die von mir erhobene Klage hinsichtlich der Realitätsferne bezieht sich selbstverständlich auch auf ostdeutsche Sozialdemokraten. Die Aussagen unseres Außenministers in der letzten
    DDR-Regierung bezüglich eines Beitritts 1991 oder 1992, die er noch im Juni/Juli d. J. machte, trieften von politischer Instinktlosigkeit. Zum damaligen Zeitpunkt war für jeden, außer unseren
    Außenminister und seine Berater, der Beitritt 1990 klar ersichtlich. Desweiteren besaß Freund Meckel seit Dezember 1989/Januar 1990 detaillierte Ausarbeitungen zu kommenden 2+4-Gesprächen
    bzw. zu friedensvertraglichen Regelungen für Deutschland. Wäre er mit diesem Material an die Öffentlichkeit gegangen, statt es in der Schublade zu lassen - die SPD hätte den Zug zur Einheit nicht
    als Schlafwagenschaffner begleitet. Hier muß natürlich die Frage nach den Beratern unseres Ministers gestellt werden. Ebenso war ihm bestens das Schnüfflernetz seines Ministeriums bekannt. Die
    Reaktionen waren gleich Null!
    
    - Das diffuse Bild der Ost-SPD bis Juni 1990 paßte ebenfalls "wunderbar" in das "Nicht Fisch noch Fleisch"-Bild der gesamten SPD. Die Hauptursachen hierfür lagen vor allem in der offenbaren
    Unfähigkeit des Ost-Vorstandes, mit der Koalitionsentscheidung der Volkskammerfraktion[13] klarzukommen. Montag für Montag wurde durch
    Vorstandsbeschlüsse über die Medien Druck auf die jeweils am Dienstag tagende Volkskammerfraktion ausgeübt. Dem Zuschauer am Bildschirm wurde dadurch ein völlig desolates Bild der Ost-SPD
    geboten.
    
    - Jüngstes Beispiel dafür, wo Teile der SPD den Verlockungen pseudo-links-intellektueller Scharlatane verträumt auf den Leim gehen, ist der Fall Böhme[14]. Die Warnungen ernstzunehmender
    Sozialdemokraten (M. Gutzeit, R. Schröder) als von rechts kommend aus dem Wind schlagend, sitzt man nun wieder einer selbstgeschneiderten Täuschung auf. Hierzu ist anzumerken, daß ich bereits
    anläßlich Böhmes Unterstützung - gemeinsam mit Modrow, Gysi, Wolf u.a. - des "Anachronistischen Zuges" seine Parteiausschluß nach § 35 (1) des Organisationstatutes der SPD forderte.
    Allgemein konstatiere ich: Mit dem Fiasko des Ostblocks steht die SPD ebenfalls vor dem Scherbenhaufen der Politik, die seit dem Abgang von Helmut Schmidt betrieben hat. Die Raketen sind fort -
    aber doch nicht zuletzt wegen Schmidts Festhalten am Doppelbeschluß. Diesen im Doppelbeschluß formulierten Druck "brauchte" der Ostblock doch wirklich. Dies haben die Ereignisse m. E. doch
    deutlich unter Beweis gestellt. Statt zu glauben, russische Raketen schmerzten weniger, statt dadurch der Propaganda des erwiesenermaßen äußerst aggressiven Ostblocks nachzulaufen - stattdessen
    hätte man doch besser den Rücken des eigenen Kanzlers stärken sollen. Mit dem schon von Schmidt (für die 80er Jahre) prognostizierten Wirtschaftswachstum im Rücken hätte man sich bei Stützung des
    eigenen Mannes um die Regierungsverantwortung bis heute keine Sorgen machen müssen. Die SPD hat sich nicht zuletzt durch ihr eigenes Handeln um die Früchte ihrer Ost- und KSZE-Politik gebracht.
    Nicht nur Brandt - auch Schmidt hat eindeutig zu einer Situation in der Sowjetunion beigetragen, welche einem Mann wie Gorbatschow den Weg öffnete. Der Nomenklatura blieb nichts anderes übrig...
    .
    
    Die SPD ist sehr gut beraten, wenn sie aus der derzeitigen Unperson Helmut Schmidt wieder den Mann "macht", welcher zu den bedeutendsten Sozialdemokraten überhaupt gehört. Bisher kannte man nur
    im Osten, in den kommunistischen Parteien, Unpersonen. Die 127jährige SPD sollte als demokratische Partei mit langer Tradition doch wohl zu klügeren Dingen fähig sein.
    
    Zu denken sollte weiterhin der Umstand geben, daß der CDU zwar Wähler verlorengegangen sind, diese aber zur FDP und nicht zur SPD gingen. Hier liegt unser derzeitiges Hauptarbeitsfeld. Um die
    PDSED brauchen wir uns keine Sorge zu machen. Als politische Splittergruppe (2,4 %[15]) wird die 12. ihre erste und letzte
    Legislaturperiode im Bundestag gewesen sein. Dies gilt allerdings unter der Voraussetzung, daß wir tatsächlich das soziale Spektrum abdecken. So wie das Aufnehmen der grünen Themen für die
    praktische Austrocknung der Grünen bundesweit sorgte, so werden auch die Restposten an demokratisch gesinnten PDS-Wählern zur SPD fließen. Hier kann nur nach dem Prinzip des Schwammes vorgegangen
    werden: die unbelasteten und demokratisch gesinnten Nichtfunktionsträger unter den Anhängern der PDS werden von der Sozialdemokratie aufgesaugt. Der Gedanke, daß sich eine 35%-Partei mit einer
    2,4%-Partei verbindet, ist lächerlich. Dies wäre außerdem genauso unmoralisch wie der Zusammenschluß von West- CDU mit der belasteten Ost-CDU. In diesem Punkt sind wir besser!
    Wen brauchen wir in erster Linie? Der neue Parteivorsitzende[16] sollte im Gegensatz zum Kanzlerkandidaten
    ein Integrator sein. Was die SPD mehr als alles andere braucht, ist eine Persönlichkeit, die von der überwiegenden Mehrheit ihrer Mitglieder getragen wird. Die SPD braucht eine Persönlichkeit,
    die für Kontinuität und Erneuerung steht!
    
    So gesehen ist ein Mann wie Björn Engholm scheinbar eine gute Wahl. Engholm war Minister im Kabinett Schmidt und gehört zur Enkelgeneration. Mit seiner Ausgeglichenheit und seinem gesunden
    Verhältnis zur Macht könnte er die Übergangsphase, in der die SPD sich seit 1982 steckt, beenden. Als ehemaliger Schmidt'scher Minister steht er für ein gewaltiges und erfolgreiches Stück
    sozialdemokratischer Politik. Mit seiner "Jugend" verkörpert er viel Hoffnung.
    
    Die im Programm "Fortschritt '90" enthaltenen Themen werden zweifelsohne die Themen der nächsten Jahre sein. Keine andere Partei weist derzeit ein derart vorausschauendes Politikangebot nach und
    beweist damit in solcher Masse ihre Visionskraft. Allerdings müssen die Themen des "Fortschritt 90" wohl noch vom Kopf auf die Füße gestellt werden, d. h. sie müssen den Grenzen des menschlichen
    Lernvermögens angepaßt werden. Bei Überforderung laufen uns nämlich die Menschen davon. Diese Art von geistiger Inbesitznahme der Massen dürfte uns -speziell im Osten- katastrophal sein. Die
    verschiedenen Varianten des "über den Menschen bestimmen" kennen wir in den neu beigetretenen Ländern noch zur Genüge.
    
    All diese Punkte schrieb ich aus und wegen meiner emotionalen Bindung an die Sozialdemokratie - nicht um im Nachhinein Recht zu bekommen (ich vertrete diesen hier beschriebenen Standpunkt in
    dieser Form schon seit längerem), wohl aber aus Verärgerung über das Unvermögen so mancher, die eigene Lage zu begreifen. Nur klare Worte helfen uns, weiterzukommen. Sätze über die angebliche
    Generationenwahl[17] und den sozialdemokratischen Sieg bei jungen
    Wählern gehören in die Kategorie der Schönrednerei, die noch niemandem ernsthaft geholfen hat. Bei so viel Einfältigkeit hat es hingegen der politische Gegner umso einfacher. Ausdrücklich betonen
    möchte ich, daß ich dem derzeitigen Fraktions- und Parteivorsitzendem[18] absolut nicht am Zeug flicken will.
    Die Aufgabe, die Partei in schweren Zeiten zusammenzuhalten, erforderte seine ganze Person. Dies bedarf einer besonderen Würdigung.
             
[1]Gemeint war der Kandidat 1990: Lafontaine
[2]Slogan des SPD-Wahlkampfes 1990.
[3]Anders als Kohls CDU gelang es der SPD nicht, sich auf die veränderten Verhältnisse einzustellen.
[4]Gemeint ist der Kleinwagen Trabant.
[5] NSDAP-Mitgliederkartei
[6] In Salzgitter wurden die bekanntgewordenen Grenzverbrechen der DDR archiviert.
[7] ... von SED und SPD aus dem Jahre 1987..
[8]Gemeint sind die Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse von 1946.
[9]Artikel 23 GG sah die Möglichkeit des sofortigen Beitritts früherer ostdeutscher Länder zur Bundesrepublik vor. Artikel 146 GG wies den Weg zur Einheit über eine verfassungsgebende Versammlung für alle Deutschen.
[10]Allianz für Deutschland (CDU, DSU, DA).
[11]Im Bundestagswahlkampf 1990 thematisierte die SPD (Lafontaine) die Kosten der Einheit. Steuererhöhungen waren hierfür absehbar. Die Bundesregierung stritt diese Notwendigkeit immer strikt ab (Kohl: Es wird keine Steuererhöhungen zur Finanzierung der Einheit geben...). Tatsächlich mußte die Regierung bereits wenige Wochen später massive Steuererhöhungen vornehmen (u. a. Solidaritätszuschlag).
[12]Am 2. Dezember 1990 wurde neben das Rot/Grüne-Bündnis (Momper) klar abgewählt.
[13]Während die Volkskammerfraktion, zusammengesetzt aus bereits gestandeneren Basisvertretern, sich zur großen Koalition durchrang, stand der eher mit diffusen Senkrechtstartern besetzte Vorstand ständig gegen die Zusammenarbeit mit den Allianzparteien.
[14]Nach der Volkskammerwahl (März) veröffentlichte der Spiegel Details zu Böhmes IM-Tätigkeit. Realistischen Gemütern in Volkskammerfraktion und Ost-SPD war Böhmes Verstrickung deutlich. Dessen ungeachtet wurde er auf dem Vereinigungsparteitag in den Bundesvorstand der SPD gewählt (Richard Schröder fiel dagegen durch). Selbst seine Unterstützung des PDS-Anachronistischen Zuges, einer Propagandaaktion in altbekannt unangenehmen Stil, nahm ihm die SPD nicht übel.
[15]Gerechnet auf das gesamte Bundesgebiet.
[16]Hans-Jochen Vogel hatte vor der Wahl klargemacht, daß er nicht länger Parteivorsitzender sein will. Ursprünglich wäre sein natürlicher Nachfolger der 90er Kanzlerkandidat Lafontaine gewesen. Dies war am Abend des 2.12.90 nicht mehr so klar.
[17]Aus Lafontaines Umgebung wurde die Version genährt, wonach die Jugend ihn gewählt habe.
[18] Hans-Jochen Vogel
Eine Antwort – von Helmut Schmidt
…die Antwort von Helmut Schmidt auf meine Auswertung kam als Weihnachtsgeschenk:
 
    
 
    
    Zu Schmidts Einwand an dem Wort “trotz” in meiner Auswertung bleibt meinerseits festzuhalten, dass ich es genauso meinte, wie Helmut
    Schmidt es zu recht sprachlich korrigierte. Mir ging es um Schmidts fast trotziger Standhaftigkeit, die zum Erfolg führte. Na ja, das Papier schrieb ich am Wahlabend aus einem Guß und gab es am
    nächsten Tag sofort in die Fraktion. Dabei war mir überhaupt nicht klar, dass der große Helmut Schmidt mein Papier auch auf seinen Tisch bekam. Der ganze Betrieb in der Fraktion war mir damals
    noch nicht wirklich klar. Um so größer war meine Freude, von meinem Idol persönlich und dann noch solche zustimmende Post zu bekommen. Siebenter Himmel war da gar nichts dagegen.
    
    Helmut Schmidt genehmigte mir die Veröffentlichung seiner Antwort.
